Silke Richter/asl

Die Nerven liegen manchmal blank

Die Pandemie stellt die Menschen vor große Herausforderungen. Eine Familie, die ihren Namen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte, fühlt sich vor allem vom Bildungssystem im Stich gelassen. Die monatelange Anspannung und der immens hohe Druck spiegeln sich auch im Familienleben wider.
Diese Familie aus Hoyerswerda versucht zusammen aus der Pandemie das Beste zu machen. Foto: Silke Richter

Diese Familie aus Hoyerswerda versucht zusammen aus der Pandemie das Beste zu machen. Foto: Silke Richter

Ein sehr langer Arbeitstag neigt sich dem Ende. Von Feierabend kann aber keine Rede sein. Das Wort »Übergabe« trifft es wohl eher. Das Abendbrot wird für die weitere Arbeitsaufteilung genutzt. Die Kontrolle der Schulaufgaben ist nur eine Aufgabe von vielen. Die beiden älteren Söhne versuchen zu beruhigen: »Läuft alles, Mama!« Der Mutter kommen dennoch Zweifel. So wie jeden Tag, seitdem die Corona-Pandemie sowohl im Berufsalltag als auch im Familienleben allgegenwärtig geworden ist. Und so müssen sich die Eltern wohl auch weiterhin auf ihre Söhne verlassen, auch wenn es den Gymnasiasten schwerfällt, sich allein zu einem sinnvollen Rhythmus zu disziplinieren. Die Telefone der Eltern stehen auch jetzt nicht still. Es folgen Meldungen über sprunghaft steigende Infektionszahlen in Kliniken und Pflegeeinrichtungen. Die schlechten Botschaften scheinen kein Ende zu nehmen. Der Druck wächst. Und dennoch müssen die Eltern möglichst Ruhe bewahren. Mittlerweile ein Dauerzustand. Zwischendrin - ein Wort, dass für die Eltern so verkehrt klingt - zeigt die jüngste Tochter stolz ihre erledigten Schulaufgaben. Die Drittklässlerin besucht die Notbetreuung. Die Eltern gehen deshalb davon aus, dass ein kurzer Check reiche. Fehlanzeige! Was zu viel ist, ist zu viel. Die Nerven liegen jetzt blank. Und es kommen berechtigte Fragen auf, warum die Aufgaben in der Schule nicht kontrolliert und bei Bedarf Hilfestellungen gegeben werden.

Erweiterte KI-Regelung kann nicht die Lösung sein

Einen Tag später sucht die Mutter das Gespräch mit der Schulleitung, die ihr sinngemäß erklärt, dass selbstverständlich keine Kontrolle der Aufgaben erfolge, da die Tochter ansonsten gegenüber den anderen Kindern übervorteilt wäre und die Familie froh sein solle, dass ihre Tochter überhaupt betreut werde. Allein dieser Fakt sei schon Privileg genug. Es folgte, seitens der Schulleitung der Tipp, die vom Gesetzgeber neu geschaffene KI-Regelung zu nutzen. So können berufstätige Eltern zehn weitere Krankentage bekommen, wenn das Kind erkrankt ist oder wegen Schul- und Kitaschließungen zu Hause bleiben muss. Für die beiden Eltern angesichts der schwierigen Situation an ihren Arbeitsorten eine undenkbare Grundeinstellung. »Mir wurde an der Stelle des Telefongespräches klar, dass weitere Erklärungen von Pandemie-Realitäten in medizinischen Einrichtungen und Pflegeheimen vergeblich sind«, erklärt die Mutter, die aber auch andere Erfahrungen gemacht hat und begeistert den Bogen zur Klassenlehrerin ihrer Tochter schlägt. Die Pädagogin engagiere sich auch in Pandemiezeiten über das verlangte Maß hinaus. Für die Eltern ist das ein wahrer Segen, arbeiten sie doch in systemrelevanten Berufen, in denen sie mehr denn je gebraucht werden. »Von früh bis spät im Einsatz gegen die Pandemie zu sein, heißt auch sofortige Erfüllung völlig neuer zusätzlicher Anforderungen. Und keiner fragt, wie man das macht. Gesundheitswesen = Dienstleistung am Menschen! Immerhin gibt es Applaus für die Helden!«, meint der Familienvater mit ironischem Unterton. Es sind jene Momente, in denen bei den Eltern die Emotionen Achterbahn fahren, gefolgt von der Frage, was man anders oder besser machen könne. Der Familienvater arbeitet als Bereichsleiter und Pflegemanager bei der AWO Lausitz und seine Frau als 1. Leitende Medizinisch-technische Laboratoriumsassistentin und Gesundheitsbetriebswirtin im Labor des Klinikums Dresden. Homeoffice kommt auf Grund der Führungsverantwortung für beide nicht infrage. »Zu unserem Alltag gehört nicht nur lösungsorientierte Entscheidungen zu treffen, sondern auch zu ermutigen, zu beruhigen und zu motivieren. Nur so bleiben die Mitarbeiter an Bord, behalten das Vertrauen, fühlen sich nicht allein gelassen und sind bereit, über die Grenzen eigener Kräfte zu gehen. Wir können und dürfen das Gesundheitssystem und die darin betrauten Kranken und Älteren nicht im Stich lassen«, betont die dreifache Mutter, die sich deshalb auch von der schulischen Notbetreuung ihrer Tochter mehr qualitative Unterstützung erhoffte.

Vom Bildungssystem im Stich gelassen

Für die beiden Eltern ist es völlig normal sich in Pandemiezeiten auch systemübergreifend gegenseitig zu helfen. Stattdessen fühlt sich die Familie in der Spezifik ihrer Situation allein und im Stich gelassen, ganz besonders vom Bildungssystem. Bis im Berufsleben und im Alltag wieder Normalität und Ruhe eingezogen sind, wartet wohl noch ein langer, schwerer Weg. Ein Schicksal, das sich die Familie mit vielen anderen Betroffenen teilt. Den beiden Eltern liegt es fern, einzelne Personen wegen der coronabedingten Missstände an den Pranger stellen zu wollen. Das An- und Aussprechen der Probleme müsse aber erlaubt sein. Das sieht Referentin Dr. Susanne Meerheim vom sächsischen Kultusministerium auf Anfrage ähnlich. Zumindest was die schulische Notbetreuung angeht, die freilich kein Unterricht ist und sowohl von Lehrern sowie Erziehern begleitet werden kann. »Unabhängig davon gehen wir allerdings schon davon aus, dass die Schüler eine pädagogische Begleitung und Unterstützung erfahren. Das heißt, dass die anwesenden Lehrkräfte und Erzieher ein Auge darauf haben, dass die von der Klassenleiterin gestellten Aufgaben erledigt werden und die Schülerinnen und Schüler dort, wo dies erforderlich ist, auch unterstützt werden«, erklärt Dr. Susanne Meerheim, die bei Problemen zu einem direkten Gespräch mit der jeweiligen Schule rät. Das hat die Hoyerswerdaer Familie vergebens versucht. Beide Eltern sind sich aus ihren Erfahrungen heraus einig: »Die Erwartungen an die in unsere Verantwortungsbereiche fallenden Dienstleistungen an Kranken beziehungsweise alten Menschen stehen zurzeit in keinem Verhältnis zur erlebten Dienstleistung an schulpflichtigen Kindern.« Fazit: Ein unterstützendes, gegenseitiges, systemübergreifendes Miteinander ist wohl mehr denn je gefragt.


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