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Rodney Arismendi und die Latino-Flüchtlinge in Cottbus (1/2)

Vor 40 Jahren
Der Che und die Augen der Welt - Foto von

Der Che und die Augen der Welt - Foto von

Im Fachunterrichtsraum Geschichte an der 24. Oberschule in Sachsendorf hingen die Porträts von Marx, Liebknecht und Thälmann. An dieser Schule lernten ab 1977 auch die Kinder der politischen Flüchtlinge, die nach der Errichtung der Militärdiktatur in Chile und Uruguay in der DDR Schutz gefunden hatten. Sie baten darum, neben den Bildern der deutschen Revolutionäre auch das Konterfei von Ernesto Che Guevarra anzubringen. Mit dem Schattenriss des „Che“, der Fotografie „Guerrillero Heroico“ des Kubaners Alberto Korda, dem berühmtesten Foto der Welt, half die Lehrerin Marina Arismendi aus. Das Foto wurde mit einem Episkop an die Wand projiziert und von den lateinamerikanischen Schülern ausgemalt. 
Marina Arismendi gehörte Ende der Siebziger zu der Gruppe von uruguayischen und chilenischen Emigranten, die in Cottbus lebten. In ihren beiden Heimatländern hatte es blutige Militärputsche gegeben. In Chile ermordete die Pinochet-Junta 1973 fast 4000 Menschen. Über 20.000 Flüchtlinge mussten allein in diesem Jahr ihr Land verlassen. Die Lehrer, Arbeiter, Wissenschaftler, Ärzte und Unternehmer suchten auch in der DDR, in Leipzig, Karl-Marx-Stadt, Ostberlin und Cottbus eine vorübergehende Heimat. Das Programm zur Integration war einfach und hart. Die Schutzsuchenden erhielten in Cottbus Wohnungen, vorwiegend in Sachsendorf. Ein sechsmonatiger Deutsch-Intensivkurs stand am Anfang. Das war damals kein Unterricht, der zweimal in der Woche stattfand, sondern ein Lehrgang mit acht Stunden täglich, straffer Bewertung nebst der Verpflichtung auch in den Pausen und der Freizeit Deutsch zu sprechen. Nach sechs Monaten begann für die Erwachsenen die Arbeit in der Druckerei der Lausitzer Rundschau, im RAW, im Bezirkskrankenhaus oder an der Ingenieurhochschule. Die Integration war erfolgreich, weil es sich um eine überschaubare Zahl der Schutzsuchenden handelte, vor allem aber, weil es möglich war, allen sofort einen Arbeitsplatz zur Verfügung zu stellen. 
Das Neue Deutschland berichtete im September 1977 aus Cottbus: „Maria und Bernardo Vargas leben sich nun bei uns ein. Ihre Kinder gehen mit unseren Kindern zusammen zur Schule, in den Kindergarten. Frau Vargas wird im Oktober eine Ausbildung als Krankenschwester beginnen, Bernardo Vargas im RAW Cottbus als Mechaniker arbeiten und ab Januar einen zweijährigen Qualifizierungskurs als Diesellokschlosser besuchen. Für beide steht fest, dass sie das, was sie hier an neuem Wissen und Können erwerben, eines Tages in den Dienst ihres Volkes stellen werden … Als wir uns von Familie Vargas verabschieden, greift Bernardo bereits wieder - fast mechanisch - nach den beiseite gelegten Büchern. Er nimmt es ernst mit dem Deutschunterricht. Dies ist sein erster Schritt, um gute Arbeit im Betrieb zu leisten - und sich zu rüsten für ein neues, ein menschliches Morgen in Chile.“
Marina Arismendi, Lehrerin von Beruf, unterrichtete an der 24. und der 25. Oberschule die Kinder der Emigranten in ihrer Muttersprache. Die lebenskluge und warmherzige Pädagogin fand rasch ihren Platz im Lehrerkollegium. Zunächst wusste kaum jemand, dass sie die Tochter des im Moskauer Exil lebenden Generalsekretärs der uruguayischen KP, Rodney Arismendi, war.
Interessant, auch im Zusammenhang mit der aktuellen Diskussion zum Thema  Flüchtlinge, ist die äußerst zurückhaltende Öffentlichkeitsarbeit in der Bezirkshauptstadt. Die Anwesenheit der Emigranten, ihre Betreuung und die Bereitstellung von Wohnungen und Arbeitsplätzen wurde zwar nicht geheimgehalten, aber auch keineswegs an die große Glocke gehängt. Im Zentralorgan gab es einige Berichte. Die Bezirkszeitung hielt sich jedoch sehr zurück. Man stelle sich vor: Ein neues Schuljahr beginnt. In Sachsendorf eröffnet eine weitere Neubauschule. Unter den Schülern befinden sich junge Menschen aus Lateinamerika. Eigentlich eine Sensation! Der Leser erfährt am nächsten Tag von der Schuleröffnung, nicht von den neuen Schülern. Diese Zurückhaltung lag möglicherweise an der Furcht vor einer Neiddiskussion, besonders wegen der Vergabe von Wohnungen, die ja in der DDR ein besonderes Gut waren. Dabei gehörte die Aufnahme der Emigranten aus Lateinamerika nun wirklich zu den Pluspunkten der untergegangenen DDR.
Probleme beim Zusammenleben waren damals selten. Ja, die verteilt in Sachsendorf lebenden Südamerikaner trafen sich mitunter abends in einer Wohnung oder sangen im Treppenflur Volkslieder. Aber die aus unterschiedlichen Lebensrhythmen resultierenden Reibungen waren bald vorbei. Die großen Cottbuser Betriebe hatten auch in der Normalschicht einen verdammt frühen Arbeitsbeginn. Da gingen die Chilenen bald genauso pünktlich schlafen, wie ihre deutschen Kollegen.
Im März 1977 besuchte dann KP-Generalsekretär Rodney Arismendi das Textilkombinat. Davon und was aus den Emigranten wurde, erfahren Sie im zweiten Teil.


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