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Die Betriebe mit staatlicher Beteiligung werden enteignet

Vor 45 Jahren - Teil 1/2

In Cottbus existierten Anfang der Siebzigerjahre noch 48 Firmen, die keine volkseigenen Betriebe waren. Ihr Weiterbestehen innerhalb der sozialistischen Produktionsverhältnisse ist eine DDR-Besonderheit, die es so in den anderen „Bruderländern“ nicht gab. Nach den Unruhen vom 17. Juni 1953 erfolgte sogar eine gewisse Förderung für kleine private Unternehmer. Von ihnen versprach sich die DDR-Wirtschaftsführung eine Verbesserung des dürftigen Konsumangebotes. Im Bereich der Bekleidungsindustrie produzierten die Privaten um 1955 immerhin 40 Prozent der Gesamtmenge in der DDR.
Seit 1956 entwickelte sich die Wirtschaftsform der staatlichen Beteiligung an privaten Unternehmen. Es entstanden die sogenannten Kommanditgesellschaften (KG).
Walter Ulbricht gab im gleichen Jahr dafür die Begründung: „Mit der staatlichen Beteiligung gibt unser Staat den privaten Unternehmern die Möglichkeit, sich in viel stärkerem Maße als bisher fest mit der Arbeiter- und Bauernmacht zu verbinden. Damit zeigen diese Unternehmer, dass sie aktiv den Weg des Sozialismus beschreiten, weil er auch ihnen und ihren Angehörigen eine klare Perspektive und eine sichere Existenz gibt. Mit der Aufnahme einer staatlichen Beteiligung ändert sich die Position dieser Unternehmer in der Gesellschaft.“ Zwar gab es in der SED-Führung immer wieder Stimmen, die wie in der Landwirtschaft auch in der Industrie die reine Lehre durchsetzen wollten. Solange aber Ulbricht noch im Sattel saß, blieben die Kommanditgesellschaften unangetastet.
In Cottbus arbeiteten neben den großen volkseigenen Betrieben Textilkombinat, RAW, VEM, Wohnungsbaukombinat, Energiekombinat, Tiefbaukombinat sowie dem Bau- und Montagekombinat 24 Betriebe mit staatlicher Beteiligung, 18 reine Privatbetriebe und sechs Produktionsgenossenschaften des Handwerks, die den Umfang von Industriebetrieben angenommen hatten.
Besonders in der traditionsreichen Cottbuser Textilindustrie trugen sechs halbstaatliche Betriebe und drei Privatbetriebe mit über 600 Beschäftigten zur Erfüllung der staatlichen Pläne und der Exportverpflichtungen bei. Die Tuchfabrik Hasselbach & Westerkamp arbeitete seit 1880 in der Ostrower Straße. Hier gab es ein hervorragendes Beispiel einer geschlossenen Produktion von Wollwäscherei, Färberei, Spinnerei, Zwirnerei, Weberei und Appretur in einem Betrieb. 
Die Tuchfabrik von Wilhelm Stoffel wurde 1899 am Ostrower Damm 11 gegründet. Die  Weberei stellte feine Herrenstoffe her. Seit 1949 produzierten 65 Beschäftigte  in der Bautzener Straße 5 Streichgarngewebe. Michael Stoffel, der Urenkel des Firmengründers erinnert sich: „In den Fünfzigerjahren bis Anfang der Sechziger war die Firma regelmäßig als Aussteller auf der Leipziger Messe vertreten. Das Produktionsprogramm umfasste Streichgarngewebe in Wolle und Zellwolle für Sakko-, Anzug- und Mantelstoffe. Es erfolgten Exporte in zahlreiche Länder, aber der Rückfluss an Devisen ging an andere Töpfe.“ Die Lausitzer Rundschau berichtete über die Exportverträge bei der Messe 1957: „Die privaten Textilbetriebe aus Forst und Cottbus lagen hierbei mit 1.022.000 DM an der Spitze, wobei die Cottbuser Volltuchfabriken Hasselbach & Westerkamp sowie Stoffel allein für 289.550 DM Exportverträge nach Westdeutschland und dem westlichen Ausland tätigten“.
Weitere halbstaatliche Betriebe waren die Berth. Herfahrt KG, die G. Rathemacher KG, die M. Viete KG, die Domke u. Wilke KG , die Enno Reuschel KG, die Gerove Berh. Tarnick KG, die Heinr. Perseke Lackfarbenfabrik, die Urania-Metallbearbeitung, die Niederl. Hefefabrik, die W. Schupp KG, die Kopf KG, die Kuhnert KG und die privaten Betriebe Pabel, C. Huckenbeck und die Merkur Brauerei. 
Im Mai 1971 erfolgte der Sturz Walter Ulbrichts. Die privaten Unternehmer in der DDR ahnten wohl, was nun auf die Tagesordnung kam, als Erich Honecker alsbald die Frage stellte, ob es nicht Zeit wäre, „Klarheit (zu) schaffen, ob wir gewisse Erscheinungen der Rekapitalisierung in unserer Republik stoppen sollen, oder ob diese Entwicklung weitergehen soll wie bisher.“
Was dann kam, fasste das DDR-Lexikon von 1977 so zusammen: „Im Zuge der Entwicklung der sozialistischen Produktionsverhältnisse, vor allem zur Erhöhung der volkswirtschaftlichen Effektivität der vorhandenen Kapazitäten, erfolgte Anfang der siebziger Jahre, durch freiwilligen Verkauf der privaten Anteile an den sozialistischen Staat, die Bildung Volkseigener Betriebe anstelle der früheren Betriebe mit staatlicher Beteiligung.“ Wie dieser Prozess vom Rat des Bezirkes am Neumarkt gesteuert wurde, welche Folgen er für die traditionsreiche Industrie in Cottbus hatte und wie freiwillig er war, wird in der nächsten Woche erzählt.


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