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„Ich war nicht nur Zuschauerin“

Vom Westen in den Osten – ohne doppelten Boden

Vor 30 Jahren hätte Barbara Hirsch (81) nicht einmal geahnt, dass sie heute, 2019, ihr neues Zuhause in Wünschendorf bei Pirna gefunden hätte. Seit 26 Jahren lebt sie mit ihrem Ehemann Dr. Volkmar Hirsch dort.  Als wir an einem heißen Sommertag in ihrem Garten sitzen und reden, spürt man, hier fühlt sie sich wohl. „Ich bin hier heimisch geworden.“ Mehr als das - die couragierte, kluge und umtriebige Frau, der man ihr Alter nicht ansieht - hat in den vergangenen 30 Jahren die Lebensumstände in Pirna und im Umkreis selbst mit geprägt. Geboren 1938 in Oldenburg, Niedersachsen, war Barbara Hirsch an verschiedenen Bildungsreinrichtungen in der Erwachsenenqualifizierung tätig. Vor allem bessere Bildungs-und Ausbildungschancen und damit Arbeitsmöglichkeiten für Frauen lagen ihr am Herzen. In Heidenheim war sie schon länger Geschäftsführerin an einem Fortbildungsstudio. „Früher haben wir im Westen auf die DDR geschaut und insgeheim von solchen Betreuungsangeboten, die es für Kinder dort gab, geträumt. Die Mütter wussten ihre Kinder gut aufgehoben. Als ich z. B. ein Zusatzstudium machen wollte, gab es damals keine Möglichkeit meine Tochter unterzubringen“, erinnert sie sich. Und dann kam die Wende. Als sie 1989/90 im Fernsehen die Ereignisse in der DDR sah, konnte sie das kaum begreifen. „Für mich grenzte das an  ein Wunder und war irgendwie unglaublich.“ Mit ihrem Mann war sie 1990 das erste Mal in Dresden. Ihr Mann kannte den Geschäftsführer vom Sachsenwerk und so wurde sie gefragt, ob sie Seminare im Sachsenwerk halten könne. „Das habe ich gemacht, denn unsere Bildungsangebote, die wir im Westen zwar für berufliche Wiedereinsteiger anboten, ließen sich übertragen. Hier ging es um Neu- und Umorientierung. Aber wenn ich mich zurück erinnere, war das Jahr 1990 chaotisch.“ Die Menschen waren verunsichert, was verständlich war, wussten doch viele nicht, wie es weitergehen sollte. Barbara Hirsch macht weiter, organisiert Seminare und kommt so auch nach Pirna, wo das Arbeitsamt Umschulungskurse plant. „Ich hatte mich trotz mancher Widrigkeiten in die Menschen hier verliebt. Sie waren sehr bescheiden, unterstützten sich gegenseitig. Ein bisschen erinnerte mich das an meine alte Kindheit. Aber das war eine emotionale Sache.“ Im Urlaub 1991 in Schweden dann machten Barbara Hirsch und ihr Mann „Kassensturz“. Sollten sie alles hinter sich lassen und von Heidenheim bzw. Wien, wo ihr Mann arbeitete, nach Pirna gehen? Sie war damals 53 Jahre. „Wir hatten eine Ja – Nein-Liste gemacht. Und am Ende gab es mehr Kreuzchen für Pirna.“ Die Entscheidung stand fest. Und so gründete sie noch 1991 das Fortbildungsstudio Pirna-Heidenheim, wie es anfangs hieß, in den Räumen des ehemaligen Strömungsmaschinenbaus auf dem Sonnenstein. Zwei Angestellte und sechs Freiberufler waren zu Beginn tätig. Angeboten wurden vor allem Weiterbildungskurse für Frauen, aber im späteren auch Sprachkurse. „Diese ersten Jahre waren absolute Aufbruchsjahre. Vor allem Frauen, die wie meistens am stärksten von Umbrüchen betroffen sind, weil sie auch die Familie, die Kinder im Hinterkopf hatten, waren offen, Neues zu lernen, einen Neuanfang zu wagen. Und ich war  mittendrin in dieser Umgestaltung, konnte sie mitprägen“, sagt sie rückblickend. Dass sie das miterleben durfte und neue Freunde gefunden hat, zählt für sie besonders. Aber sie macht es traurig, dass sie öfter erlebt, dass die Sachsen ihre Leistungen, die sie selbst erbracht haben, zu wenig würdigen. „Die Menschen hier können verdammt noch mal sehr stolz auf das sein, was sie geschafft haben. Ich kann diese Leistung sehr gut bewerten. Ich wünsche mir einfach mehr Selbstbewusstsein.“  „Ihr“ Fortbildungsstudio, das heute Dr.-Hirsch-Akademie heißt und seit 1999 ein eigenes Unterrichtsgebäude auf der Pirnaer Bahnhofstraße besitzt, ist heute eine erfolgreiche Bildungseinrichtung in Pirna. Hunderte EuropasekretärInnen, EuropamanagementassistentInnen, Kaufleute, später AltenpflegerInnen gehören zu den Absolventen, die europaweit tätig sind. 1999 hat Barbara Hirsch ihre Akademie an Anne Wende als Geschäftsführerin übergeben. Die ehemalige Pirnaer Lehrerin hat von Anfang in der Einrichtung gearbeitet, konnte so in alle Aufgaben hineinwachsen. „Ich konnte in Ruhe meinen Part abgeben, weil ich wusste, dass es geschäftlich und menschlich einfach passt.“ Der Ruhestand, der dann kam, war eher ein Unruhestand, denn nur in ihrem Garten in Wünschendorf sitzen und den Vögeln zuhören, das kann Barbara Hirsch nicht. 2003 gehörte sie zu den Mitbegründerinnen der Soroptimisten in Pirna, einer Serviceorganisation, die sich vor allem für soziale Projekte und Frauen engagiert. Und 2008 gründete Barbara Hirsch das Theaterpädagogische Zentrum Pirna, war bis vor kurzem Vereinsvorsitzende. „Als wir mit dem Projekt be­gannen, hatte jeder 5. Schul­abgänger in der Sächsischen Schweiz keinen Schulab­schluss. Wir wollten darauf mit kultureller Bildung ant­worten. Heute ist die Situa­tion besser, aber wir haben noch viel zu tun“, weiß sie nur zu gut. Hier spielen Kinder aus verschiedenen Bildungsstu­fen, von der Förderschule bis zum Gymnasium, erarbeiten ihre eigenen Stücke unter Anleitung professioneller Theaterpädagogen. Unabhän­gig von diesen Ausgangsbe­dingungen waren nur zehn Prozent vorher im Theater. Dies ist ein Mangel an kultu­reller Bildung, den der Verein hilft, auszugleichen. Etwa 1.000 Kinder und Jugendliche haben seitdem diese besondere Schule absolviert. „Einige Kinder haben ganz klein angefangen und sind heute als Jugendliche noch dabei. Wenn ich sehe, welche Entwicklung sie persönlich seitdem genommen haben, lohnt jede Anstrengung.“ Denn auch dieses Projekt war alles andere als einfach, ständig war der Verein auf der Suche nach finanzieller Unterstützung. „Anfangs habe ich dort gearbeitet, wie eine Angestellte, obwohl es ein Ehrenamt war. Aber wenn man ein Leben lang aktiv war, wie ich, kann man eben nicht aus seiner Haut“, meint sie schmunzelnd. Dieses Engagement blieb auch über Pirna hinaus nicht unbemerkt. 2015 wurde Barbara Hirsch Botschafterin der Wärme und erhielt zudem den Katharina-von-Bora-Preis. Außerdem wurde sie für den Deutschen Engagementpreis nominiert. Da wehrt sie aber schon ab. „Die Preise habe ich zwar persönlich erhalten, aber damit wurde die Arbeit des gesamten Vereins gewürdigt. Und darauf sind wir mächtig stolz. Dass uns die Preisgelder auch geholfen haben, versteht sich von selbst.“ Jetzt, da sie den Vereinsvorsitz abgibt, haben ihr die Kinder eine Collage geschenkt, die viele Mitwirkende des Theaters der letzten Jahre zeigt. Sie bekommt einen Ehrenplatz bei ihr. „Ich bin froh, jetzt auf so erfolgreiche Jahre sowohl beruflich hier in Pirna, als auch in meinem Ehrenamt zurückblicken zu können. Und ich bin dankbar, nicht nur Zuschauerin gewesen zu sein, sondern Mitgestalterin. Hier in Pirna sind wir angekommen und zu Hause.“


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