Christina Müller erlebte die Wendezeit mit Bananen und Arbeitslosigkeit. Eine Glocken-Spieluhr hält ganz besondere Erinnerungen an die Vergangenheit wach.
»Stille Nacht, heilige Nacht, alles schläft, einsam wacht…« Spieluhrenmusik mitten im Sommer unweit des Lausitzcenters. Gleich nebenan jubiliert an einem warmen Nachmittag bei 30 Grad Außentemperatur die Amsel im Geäst einer Birke. Christina Müllers Blick fällt dabei unweigerlich auf das 30 Meter große Riesenrad. Kleiner Stadtfestcharakter in Zeiten von Corona und Co.
Moderne Fahrgeschäfte und dieses Virus hat es vor 30 Jahren in Hoyerswerda noch nicht gegeben. Die kleine, hübsche Glocke mit der Weihnachtsmusik aber schon. Sie ist seit mehreren Jahren im Besitz der Familie. Christina Müller ist froh darüber, sie aufbewahrt, beschützt und gehütet zu haben.
Es ist nicht wegen des materiellen Wertes, der ohnehin sehr gering sein dürfte. Kein Stempel, keine Prägung, sehr leichtes Material, das hier und da diverse Abnutzungserscheinungen zeigt. Aber das Spieluhrenwerk läuft wie am Schnürchen. Noch nicht ein Mal musste es repariert oder erneuert werden, berichtet Christina Müller, die sich beim Abspielen der Musik in ihre Kindheit versetzt fühlt. Es ist jene Zeit, in denen die Familie Westpakete bekommt. Ein untrügliches Zeichen dafür war, dass die Pappkartons eine gelbe Farbe hatten. Mit sehr viel Liebe zum Detail verpackt und namentlich für jedes einzelne Kind in der Familie adressiert.
Ein Hauch von Freiheit
Beim Öffnen der Pakete strömte ein herrlicher Duft durch die Wohnung, wie man ihn von den damaligen Intershops kannte. Für konvertierbare Währungen konnte man in diesen Geschäften Dinge des täglichen Bedarfs kaufen, wenn man denn das nötige Kleingeld dafür auch hatte. Die Familie freute sich deshalb umso mehr über die Faserstifte, Schokolade und Kaugummis. Ließen diese Dinge doch das bunte Leben mit einem Hauch von Freiheit hinter der Grenze erahnen. Hin und wieder konnte auch die Familie von Christina Müller im Intershop einkaufen. Ihre Tante im Westen machte es möglich. Im Zuge des Mauerbaus blieb die Schwester von Christina Müllers Mutter auf der anderen Seite zurück, als Deutschland in den Westen und Osten geteilt wurde.
Mit der Berliner Mauer war eine Grenze geschaffen worden, die gegenseitige Besuche sehr erschwerte oder nahezu unmöglich machten. Da blieb dann oftmals nur der in der DDR streng kontrollierte Postweg. Christina Müllers Familie hatte dennoch Glück. Denn gelegentlich durfte ihre Tante aus dem Westen in die DDR, besser gesagt in das heimatliche Dorf Wiednitz, einreisen und ihre Angehörigen besuchen.
Dabei wurde die Spieluhrenglocke sehr oft aus dem Schrank geholt. Bei Weihnachtsfesten, wenn die Familie durch Ost und West getrennt war, fühlten sich die Angehörigen beim Erklingen von »Stille Nacht, heilige Nacht« mental ganz besonders verbunden. Ein kleines Trostpflaster, in jenen Zeiten, in denen Familien eigentlich gemeinsam unterm Weihnachtsbaum sitzen sollten.
Mit dem Mauerfall im Jahre 1989 war dann plötzlich alles anders. Die vermeintliche Sehnsucht nach dem Westen entpuppte sich für Christina Müller als Trugschluss. Zwei Tage nach dem Mauerfall ging es mit einem grünem Trabbi und 100 DM Begrüßungsgeld in Richtung Westberlin.
»Ich war von der Vielfalt und Fülle überwältigt. Letztlich kaufte ich nur Bananen und ein Polizeiauto für meinen dreijährigen Sohn. Aber ich wollte nie im Westen bleiben«, erzählt Christina Müller.
Die 59-Jährige teilte das Schicksal vieler Menschen und wurde arbeitslos. Die beruflichen Pläne waren alle futsch und es begann eine Zeit der Traurigkeit, des Neusortierens und Dazulernens. Mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Weiterbildungen und Jobs auf Zeit hielt sich die Ehefrau und Mutter finanziell über Wasser, denn eines wollte Christina Müller nie: Vom Staat abhängig sein. Heute, 30 Jahre später, meint die Hoyerswerdaerin: »Das Ende der DDR war vorprogrammiert, die Wirtschaft war völlig am Ende. Aber auch danach ist nicht alles optimal gelaufen in unserem Land. Wichtig ist aber letztlich, was man daraus macht.«