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Birgit Branczeisz

Wenn ganz normale Menschen Geschichte schreiben

Dresden. Reportagen aus Museen, die eigentlich keine waren.

25 Geschichten von Menschen, die nie Helden sein wollten. "Industriegeschichten. Reportagen aus Museen, die keine waren", so heißt die neue Sonderausstellung in den Technischen Sammlungen Dresden in der Junghansstraße. Fotograf David Brandt und Kulturwissenschaftlerin Cornelia Munzinger-Brandt haben dafür Interviews mit Menschen geführt, die bis zur Wende in sächsischen Betrieben gearbeitet haben, teils über Jahre, ehe sie die Wende mitriss und eine ganze Region dazu.

Menschen mit gebrochenen Biografien, die letztlich zurückgekehrt sind an ihren Arbeitsplatz, ihren Betrieb - in Initiativen, Vereinen oder als Einzelkämpfer, Führungen geben oder Maschinen am Laufen halten. Entstanden sind drei Stunden Film mit berührenden, bewegenden Lebensgeschichten und Zeitreisen in ein Land, das gerade untergeht. Gezeigt werden Bildwolken mit Text-Zitaten, Fotos der Wende-Zeit und heute und die Filminterviews, die die Besucher in die Geschehnisse versetzen.

Das erste Foto-Interview ist 2014 im Museum der Bandweberei Großröhrsdorf entstanden. Es folgten Reportagen aus der Crimmitschauer Tuchfabrik Gebr. Pfau, der Energiefabrik Knappenrode, dem Basaltwerk Baruth, dem Museum für Druckkunst Leipzig, der Schaustickerei Plauener Spitzen, dem Glasmuseum Weißwasser, der Zinngrube Ehrenfriedersdorf, dem Ersten Deutschen Strumpfmuseum, dem Elektroporzellanmuseum Margarethenhütte, dem Deutschen Damast- und Frottiermuseum und dem Fernmeldemuseum Dresden.

Da schaut uns Wolfgang Zerrenner aus der Tuchfabrik Gebr. Pfau an, der alles drangesetzt hat, seine Lehrlinge noch alle fertig auszubilden. Vor wenigen Tagen haben über 2.000 Menschen die Wiedereröffnung gefeiert. Die alten Anlagen wurden außergewöhnlich integriert - ein Kompetenzzentrum für Textilindustrie soll entstehen. Roland Schwarz, Direktor der Technischen Sammlungen: "Hier erwarten wir ein Happy End dieser Geschichte, aber das ist natürlich die Ausnahme".

Ein wenig wie in Schlössern und Burgen müsse man sich das vorstellen, wenn der Betrieb alter Maschinen vorgeführt wird. "Wir haben die Aufgabe, das zu übernehmen, diese Menschen verabschieden sich jetzt aus dem Ehrenamt - das ist für alle in Sachsen eine Riesen-Herausforderung. Wer ist in der Lage, in 15 Jahren diese Webstühle und Sinnmaschinen zu bedienen und zu reparieren?", umreißt Roland Schwarz die Mammutaufgabe, regionale Identität, Familiengeschichten und Industriekultur zu bewahren.

So wie es Eberhard Bley völlig selbstverständlich über 30 Jahre getan hat. Der Maschinenschlosser und Ingenieur für Textilmaschinen hat in der Spinnerei & Tuchfabrik Lengenfeld alle Maschinen alleine am Laufen gehalten, jedes Ersatzteil zu Hause in seiner Werkstatt gefertigt. Jetzt ist er 85 Jahre alt und lernt einen 50 Jahre jüngeren Textil-Ingenieur an, unterstützt von einem Verein. "Kein Zutritt!" Wird Cornelia Munzinger-Brandt nach der ganz besonderen Geschichte gefragt, führt sie uns zu Gerhard Sonntag.

Der Diplomingenieur für Automatisierungstechnik blieb bis 1998 im Heckert Maschinenbau Chemnitz - blieb, als die Kollegen in Hunderter-Schritten entlassen wurden. 4.500 Mitarbeiter waren es zur Wende. Er blieb, obwohl der Familienvater mit fünf Kindern das Angebot hatte, den diakonischen Dienst aufzubauen. Er brachte es nicht übers Herz zu gehen, wurde prompt zum Betriebsratsvorsitzenden gewählt und führte in den 1990ern die Arbeitskämpfe gegen die Treuhandpläne mit an.

Er ist der einzige, von dem es kein aktuelles Foto aus dem Werk gibt. Kein Zutritt! Denn nach der Wende galt laut Einigungsvertrag zehn Jahre lang, dass Betriebsräte nicht übernommen werden mussten. Die Eruptionen von damals wirken offenbar bis heute nach. Bis in die heutige Spaltung der Gesellschaft.

Zum Film geht`s hier: www.Industriegeschichten.de

 


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