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»Viele bewegen die alltäglichen Dinge des Lebens«

»Gedichte zur richtigen Zeit« ist das erste Buch von Andreas Bertram aus Berlin. Dabei hat er die Situation der Gesellschaft in Deutschland im Blick.
Andreas Bertram mit seinem Buch »Gedichte zur richtigen Zeit«. Foto: sts

Andreas Bertram mit seinem Buch »Gedichte zur richtigen Zeit«. Foto: sts

Mit Ihren Gedichten beschreiben Sie die Situation der Gesellschaft in Deutschland in der Vergangenheit und in der Gegenwart. Was ist dabei Ihr Kernanliegen? In meinem Buch werden Zusammenhänge dargestellt, Hintergründe beleuchtet und grundsätzliche Aussagen zum Menschen, zur Gesellschaft, zur Zeitgeschichte und zur Gegenwart getroffen. Ziel ist es, dass der Leser tiefgründige Erkenntnisse erlangt und er zum Nachdenken und Diskutierten angeregt wird. Insbesondere aufgrund sehr positiver Lesermeinungen hege ich die Hoffnung, dass mein Gedichtband auch von künftigen Generationen noch gelesen wird. Ich verstehe mein Buch als einen Beitrag zur Meinungsvielfalt und möchte an die dichterische Tradition in Deutschland anknüpfen. Viele Ihrer Gedichte sind in den S- und U-Bahnzügen ihrer Heimatstadt Berlin entstanden. Welche wesentlichen Eindrücke konnten Sie für Ihre Verse dabei gewinnen? In den öffentlichen Verkehrsmittel Berlins erkennt man die Veränderungen von Mensch und Gesellschaft am ehesten. Mein Arbeitsweg führte mich ja vom beschaulichen, traditionell geprägten Osten in den Nordwesten, wo ich manches Mal auf dem Bahnhof wartend, ausschließlich Menschen mit Migrationshintergrund sah. Als mir auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise täglich Zugereiste begegneten, konnte ich die Neuankömmlinge gut studieren. Meine Erkenntnisse deckten sich so gar nicht mit dem, was das Fernsehen uns täglich berichtete. Die Kölner Schreckensnacht bestätigten dann in dramatischer Weise meine Einschätzungen. Im Spannungsfeld zwischen Medienberichterstattung und Realität entstanden so einige Gedichte. Auch offenherzige Gespräche zwischen den Fahrgästen, meist im Ostteil der Stadt, gaben mir Inspirationen für meine Verse. Sie sind für ihren Gedichtband auch durch Deutschland gereist und haben mit den Menschen gesprochen. Was bewegt die Menschen grundlegend? Viele Menschen bewegen die alltäglichen Dinge des Lebens, sie müssen für den Erhalt ihrer Existenz arbeiten, ja manchmal kämpfen, sich um die Kinder kümmern, Angehörige pflegen. Da bleibt oftmals nicht viel Zeit, um über Grundlegendes nachzudenken. Und doch spürt man vielerorts die Zukunftsängste, die regional sehr unterschiedlich ausgeprägt sind. Allgemeiner Art scheint mir die Erkenntnis zu sein, dass immer mehr Menschen in Deutschland unterhalb des Existenzminimums leben müssen, dass die Menschen kälter und rücksichtsloser werden und dass uns Verteilungskämpfe bevorstehen. Gibt es dabei Unterschiede zwischen Alt- und Neubundesbürger? Nach dem Krieg nahmen die Alliierten Einfluss auf die (Um-)Erziehung der Deutschen in West und Ost. Russen und Amis sind grundverschiedene Menschen, mit anderen Weltbildern, anderer Geschichte und Tradition. Dies wirkte sich maßgeblich auf die Methoden und Inhalte der Umerziehung der West- bzw. Ostdeutschen aus. Der wesentlichste Unterschied ist der Umgang mit der Kriegsschuld. Während man diese im Westen stets - wenn auch latent - erneuert, distanzierten sich die Russen und ihre kommunistischen Freunde in der DDR davon. In dieser Hinsicht wuchs man im Osten freier auf. Was genau kritisieren die Neubundesbürger? Generell kritisieren die Neubundesbürger, dass ihr DDR-Dasein, das heißt ihr Schaffen und ihre Arbeit heute vom alles bestimmenden Westen missachtet und entwertet wird. Im Konkreten sind das nicht anerkannte DDR-Berufsabschlüsse und andere Zeugnisse sowie die geringeren Gehälter und Renten, die selbst 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch nicht angeglichen wurden. Die ehemaligen DDR-Bürger können, anders als die Altbundesbürger, auf eine wichtige Erfahrung zurückgreifen: Sie haben in einer Diktatur gelebt und sind deshalb sensibilisierter für diktatorische Methoden, für die Unterdrückung der freien Meinung und für falsche politische Entscheidungen. Immer mehr Neubundesbürger fürchten, es könnte sie das, was sie mit der DDR hinter sich gelassen hatten, in naher Zukunft wieder einholen. Welche Besonderheiten weisen in dem Zusammenhang die Menschen aus der Lausitz auf? Ich sehe die Lausitz als eine Region, die trotz der Lage zwischen dem (alten) Preußen und dem (alten und neuen) Sachsen ihre Eigenständigkeit bewahrt hat. Gemeinsam mit meiner Frau und einem Freund von uns besuchten wir unlängst Senftenberg. Die Menschen sprechen hier etwas ander als bei uns, stellte unser Freund fest, aber auch anders, als die Dresdner Sachsen. Wir hatten zu vielen Lausitzern Kontakt, die sehr offen und hilfsbereit waren. Als wir vom See kommend durch die Fußgängerzone liefen, sagte unser Freund: „Ich könnte es mir durchaus vorstellen, hier zu leben“. Mein Eindruck ist, dass in der Lausitz das Gute der DDR-Zeit bewahrt wurde. Inwieweit spielen dabei der Kohleausstieg und der damit einhergehende Strukturwandel in der Lausitz eine Rolle? Nachdem die Wiedervereinigung in trocknen Tüchern war, überließ die Bundesregierung ihren alteingesessenen mächtigen Unternehmern die neuen Bundesländer. Mit der Behauptung, sämtliche Ostbetriebe seien marode und nicht konkurrenzfähig, konnten die Kapitalisten sich im Osten schadlos halten und sich ihrer unliebsamen Konkurrenz entledigen. Zu dieser Zeit wurden enorme Vermögenswerte vernichtet, die Zukunft für die neuen Bundesländer verbaut und die Abwanderung der Bevölkerung gen Westen befördert. Ich habe den Eindruck, Deutschland ist es heute wichtiger, als ein Vorbild im Umweltschutz ein Rederecht vor der UNO zu bekommen, als Arbeitsplätze zu sichern und das Leben in den Braunkohleregionen weiterhin lebenswert zu erhalten. Denn was hilft es den noch im Kohlebergbau Tätigen, wenn sie künftig zwar finanziell abgesichert sind, jedoch keine Lebensaufgabe, keine berufliche Bestätigung haben und nur noch wenige soziale Kontakte bestehen. Wie ist das aktuelle Verhältnis der Alt- und Neubundesbürger untereinander? Die meisten Deutschen aus Ost und West, die berufliche oder privat miteinander zu tun haben, akzeptieren inzwischen den jeweils anderen, so wie er eben ist. Doch viele Altbundesbürger pflegen keine Kontakte zu den Neubundesbürgern und umgekehrt. So gibt es auf beiden Seiten Vorbehalte. Ich habe in letzter Zeit mehrfach Dresden und Köln besucht. Es sind in jeder Hinsicht zwei völlig verschiedene Städte. Auch Berlin ist weiterhin geteilt. Man ruft: „Ost-Ost-Ostberlin“! Bei Union singen sie Weihnachtslieder. Wenn ich aus Interesse und Wanderlust durch die Wohngebiete wohlhabender Westberliner streife, identifiziert man mich sofort als Ostberliner und schaut mich argwöhnisch an. In Westberlin haben manche Menschen Angst vor einer Reise nach Dresden: „Dort gibt es doch so viele Nazis!“. Doch sollte man wohl eher ängstlich sein, wenn man nachts durch die Problembezirke Kölns läuft. In der Vergangenheit wurde oft von Jammer-Ossis und von Besser-Wessis gesprochen. Wahrheit oder Fiktion? Zunächst einmal ist klarzustellen, wer denn diese Begriffe benutzt. Ich lebe ja in Berlin, an der Nahtstelle von Ost und West. Als ich das erste Mal Westberlinern begegnete, dachte ich: Was sind das für bornierte, besserwisserische Menschen. Heute sehe ich es etwas differenzierter, weiß ich doch, dass man die Westler vornehmlich zum egoistischen und selbstdarstellerischen Verhalten erzogen hat. Es geht ihnen immer gut und sie gestehen keinerlei Schwächen ein, weil sie sonst Nachteile befürchten. Da sich nicht wenige von ihnen als „Sieger der Wiedervereinigung“ sehen, glauben sie, dem Osten Ratschläge erteilen zu müssen. Diese Altbundesbürger verdienen sich dann die Bezeichnung „Besserwessi“. Der Begriff  „Jammerossi“ stammt offensichtlich aus der Fabelwelt westlicher Politiker, denn ich habe nie gehört, dass Westberliner Gebrauch von dem Wort machten. Und so fern wie Westpolitiker den neunen Bundesländern sind, so wenig trifft das Wort „Jammerossi“ auf die Neubundesbürger zu. Sie selbst lebten 30 Jahre in der DDR, deren politisches System eine Diktatur war. Fast genauso lang sind Sie heute Bürger in einem vereinten Deutschland mit einer Demokratie. Diese scheint zunehmend zu wanken: Etablierte Volksparteien reiben sich selbst auf, finden kaum noch Lösungen für die Probleme der Menschen. Wie sehr sehen Sie die Demokratie in Deutschland gefährdet? Die etablierten Volksparteien tragen nach meiner Einschätzung für ihren Niedergang selbst die Verantwortung, denn sie haben insbesondere in den letzten fünf Jahren nicht selten am Volk vorbeiregiert. Dies war einer der Anlässe für zahlreiche Politiker und Mitglieder der Volksparteien, diese zu verlassen und eine neue Partei zu gründen. Insbesondere in den neuen Bundesländern wandten sich viele von den Etablierten ab, was die Mitte schwächte und die Ränder stärkte. Es stellt sich nun die Frage, was für die Demokratie gefährlicher ist: Eine politisch rechts der CDU/CSU agierende Partei, die die Landespolitik mitgestaltet, oder das de facto Anulieren einer Landtagswahl, weil die Bundesregierung und die etablierten Parteien das Wahlergebnis nicht akzeptierten. Nach dem Mauerfall sind Sie viel gereist und waren in über 60 Ländern zu Gast. Auch in Österreich. Unser Nachbarland geht mit Kanzler Sebastian Kurz und einer neuen schwarz-grünen Regierung ungewöhnliche Wege, kämpft für das Klima und gleichzeitig für sichere Grenzen. Was können wir von den Österreichern lernen? Ich möchte meine Ausführen über Österreich mit auf die Schweiz beziehen. Wir müssen uns davon lösen, dass links und grün generell etwas Gutes sind und rechts und blau generell etwas Schlechtes sind. Das Kriterium für politische Entscheidungen sollte sein: Wie können wir unsere Zukunft und die unserer Kinder sichern und was sind für uns die größten Gefahren. Ein mit mir befreundeter Wissenschaftler aus den USA meinte, dass es das mit der Schweiz gewesen wäre, hätten sie dort eine Flüchtlingspolitik wie in Deutschland betrieben. Dass Österreich sowohl Grenzschutz, als auch Klimaschutz priorisiert, spricht für ihre Vernunft, ihr Verantwortungsbewusstsein und ihre Weitsicht. Es sollte Deutschland trotz aller „Erinnerungskultur“ und „besonderen Verantwortung“ schnellstmöglich wieder gelingen, vernüftige politische Entscheidungen zu treffen, die in erster Linie dem Wohl des Volkes dienen. Ihr Buch »Gedichte zur richtigen Zeit« ist im November 2019 erschienen. Warum ist die Zeit reif für Ihre geschmiedeten Verse? Nicht wenige behaupten, unser Land befände sich in einer Situation wie die DDR kurz vor der friedlichen Revolution. Sie sagen: „Es kann kein Weiter so geben, es muss sich etwas Grundlegendes ändern“. Doch wie zu DDR-Zeiten weiß niemand, wie sich der Änderungsprozess vollziehen soll. Mein Buch triff genau in diese kurze Zeitperiode, in der die Weichen für die Zukunft Deutschlands neu gestellt werden. Ich habe den Status quo unseres Landes in satirisch überhöhten Versen beschrieben und den Texten einige Körnchen Wahrheit beigemischt, die anderswo selten zu finden sind. Unser Leben, unsere Gesellschaft, unsere Politik und unsere Moral sind nicht alternativlos. Es genügt bereits ein Blick über unsere Landesgrenzen hinaus, um dies zu erkennen. Mein Buch ist schonungslos, doch darin liegt die Chance für etwas Neues. Und so kann mein Gedichtband den Lesern Orientierung und Unterstützung bieten, die auf der Suche nach dem richtigen Weg sind. • Am 12. März sollte es eine Lesung mit Andreas Bertram auf der Leipziger Buchmesse geben. Die Messe wurde jedoch aufgrund des Coronavirus abgesagt.


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