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Unser Lebensstandard braucht Zuwanderung

Michael Harig ist seit 2001 Landrat in Bautzen – zunächst vom ursprünglichen Landkreis, bis der im August 2008 gemeinsam mit dem Landkreis Kamenz und der bis dahin kreisfreien Stadt Hoyerswerda im neuen Landkreis Bautzen aufging. Zuvor war er von 1990 bis 2001 Bürgermeister in Sohland an der Spree an der tschechischen Grenze, wo er auch aufgewachsen ist. 2015 wurde er für weitere sieben Jahre im Amt bestätigt. Hermann traf sich mit ihm in seinem Heimatort Crostau, der seit 2010 zur Stadt Schirgiswalde-Kirschau gehört.
In seinem Heimatort Crostau traf Landrat Michael Harig (CDU) WochenKurier-Redakteur Heiko Portale zum Interview.

In seinem Heimatort Crostau traf Landrat Michael Harig (CDU) WochenKurier-Redakteur Heiko Portale zum Interview.

Herr Harig, warum ist Ihnen der Landkreis Bautzen so ans Herz gewachsen, dass Sie schließlich Ihre gesamte berufliche Laufbahn hier verbracht haben? Ich bin, wie alle hier vor 1989 Geborenen, ein Stück weit DDR-Bürger. Wir haben damals erlebt, wie die Planwirtschaft in Misswirtschaft mündete und dadurch nicht nur die gewerbliche, sondern auch die öffentliche Infrastruktur in ihrer Substanz verzehrt worden ist. Die Gemeinde Sohland war eine sehr große Gemeinde. In ihr war die Verzehrung der Infrastruktur an jeder Ecke sichtbar. Das betraf öffentliche Gebäude ebenso wie Straßen, Wege und Brücken. Gerade das Thema Umwelt war ein besonders schwieriges. Die Fließgewässer, insbesondere die Spree, waren biologisch tot. In Sohland war dies besonders sichtbar, weil sich hier mit dem Stausee die erste Staustufe der Spree befindet. Es gab viele Betriebe, die ihre Farbrückstände und Abfallstoffe aus der Batterieherstellung oder der Früchteverwertung ungeklärt in die Gewässer abließen. Diese Zustände, die ja im ganzen Land zu beobachten waren, führten wegen Perspektivlosigkeit schließlich zur Wende. Die DDR ist nicht am Glücklichsein der Menschen gescheitert. Ich habe mich schon in den 80er-Jahren schriftlich oft an die Volkskammer und die Regierung gewandt. Dabei habe ich die Zustände kritisiert, aber auch Vorschläge zur Änderung unterbreitet. Dann kamen die Wendejahre 1989/90. Am 6. Januar 1990, ich weiß es noch genau, bin ich in die CDU eingetreten. Ausschlaggebend war der Auftritt Helmut Kohls kurz vor Weihnachten 89 vor der Ruine der Dresdner Frauenkirche. Ich wollte nicht nur kritisieren, sondern aktiv mitgestalten. Ich konnte damals natürlich nicht ahnen, dass es mich irgendwann in die Kommunalpolitik verschlagen würde. Ich hatte ja auch keine Verwaltungs- oder juristische Ausbildung, die man, davon war ich überzeugt, dafür benötigte. Als es dann 1990 zur Volkskammerwahl kam, bei der die CDU unter de Maizière gewann, wurde als erste Maßnahme am 6. Mai 1990 eine Kommunalwahl angesetzt. Ich wurde damals von unserem Pfarrer gefragt, ob ich mir vorstellen könnte, als Bürgermeister in Sohland zu kandidieren. Ich sagte: „Ich weiß zwar nicht, auf was ich mich da einlasse, aber schauen wir mal. Mehr als schiefgehen kann es ja nicht.“ Ich kandidierte für den Gemeinderat. Bis 1994 wählte in Sachsen der Gemeinderat den Bürgermeister aus seinen Reihen. Nach der Wahl in den Gemeinderat habe ich auch dann die zum Bürgermeister geschafft. Heute geschieht das durch Urwahl – also direkt durchs Volk. Das war der Anfang. Es war mit heute verglichen eine wilde Zeit – sie war wirklich wild! Dabei habe ich dann durch die Praxis festgestellt, dass Idealismus allein nicht ausreicht. So habe ich mich an der TU in Dresden für ein berufsbegleitendes Studium einschreiben wollen. Dabei wurde mir aber mitgeteilt, dass mir die dafür erforderliche Voraussetzung – das Abitur – fehlt. Vor der Wende wurde ich wegen der Nichtteilnahme in der FDJ und der Jugendweihe von einer weiterführenden Schulausbildung trotz guter und sehr guter Noten ausgeschlossen. Ich habe mich daraufhin mit dem damaligen Innenminister in Verbindung gesetzt und mich beschwert: „Die Kommunisten haben mich nicht gelassen, da ich nicht linientreu genug war und jetzt wird mir gerade das zur Last gelegt! Das Sprichwort „Wem der Herr ein Amt, dem hat er auch Verstand gegeben“ ist nur eine Redewendung. Ohne profundes Wissen geht es nicht! Nach vielem hin und her wurde mir schließlich bei der sich in Gründung befindlichen Verwaltungs- und Wirtschaftsakademie (VWA) eingeräumt, mich für eine Art Y-Studium einzuschreiben. Das bedeutete, dass ich in den ersten zwei Semestern zunächst nur als Gasthörer teilnehmen konnte. Damit war die Auflage verbunden, alle Probeklausuren mitzuschreiben und erfolgreich zu bestehen. Erst dann dürfe ich mich „ordentlicher Hörer“ nennen. Im Selbststudium habe ich mir dann das angeeignet, was ich für einen guten Abschluss brauchte. Der ist mir dann 1994 mit dem VWA- Diplom auch gelungen. Bautzener Landrat sind Sie seit 2001. Was machen Sie anders als Ihre Vorgänger? Ich mache das weiter, was sie angefangen haben. In den 90er-Jahren musste die Verwaltung komplett neu aufgebaut werden. Das war mit dem, was es in der DDR gab, nicht vergleichbar. Die DDR war ein Zentralstaat. In der Bundesrepublik gilt das Primat der kommunalen Selbstverwaltung. Durch die Übernahme westdeutschen Rechts, das mit dem 3. Oktober 1990 über Nacht kam, mussten wir Strukturen schaffen, die diesem Recht letztlich genügten. Schließlich ist alles, was die Kreise oder die Gemeinden heute machen und verantworten, justiziabel. Es musste damals alles neu geordnet und aufgebaut werden. Das galt von A wie Abfallwirtschaft über Gesundheit, Soziales, die Straßenverwaltung, oder die Raumordnung bis hin zu Z wie die Zulassung der damals vielen neuen Kraftfahrzeuge. Es war eine schwierige, aber auch schöne Zeit. Sie bot unheimlich viele Freiräume. Wir beantragten Fördermittel auf ein, zwei DIN-A4-Seiten in Millionenhöhe. Und das Geld bekamen wir auch und konnten schnell vieles bewegen. Man musste sich nur trauen. Heute ist das leider undenkbar. Und wer die Zeit damals gut genutzt hat – und ich glaube, wir in Sohland haben sie genutzt – hat auch viel erreichen können. Jetzt haben wir eine andere Situation: Die ersten 25 Jahre waren davon bestimmt zu investieren, wieder aufzubauen – im Sinne des Wortes. Kommunalpolitik und Wahlentscheidungen richteten sich danach aus, wie viele Straßen oder Schulen saniert wurden, welche Dächer neu gedeckt, Turnhallen oder Spielplätze neu geschaffen wurden. Dann kam das Thema Kommunalabgaben für Abwasser und Straßen auf. In einer Situation, die von Strukturbrüchen und hoher Arbeitslosigkeit bei uns im Osten gekennzeichnet war, musste sich die kommunale Selbstverwaltung beweisen. Das war nicht einfach, kostete Nerven und auch Zustimmung. Die kommenden 25 Jahre werden anders sein. Jetzt müssen wir das Geschaffene mit Sinn – Lebenssinn – füllen. Das ist, so glaube ich, schwieriger. In einer Wiederaufbauphase können sie nicht viel falsch machen. Wenn die Straßen neu, Dächer dicht, Fassaden saniert oder neue Sporthallen übergeben sind, freuen sich alle, zumindest die meisten. Aber jetzt, da wir einen gewissen Stand erreicht haben, verblassen die Erinnerungen. Wie heißt es so schön: „Not verbindet“. Unser heutiger Wohlstand führt zu zunehmendem Individualismus. Die Kräfte in der Gesellschaft driften auseinander. Es ist deshalb umso wichtiger, Themen und Aufgaben zu finden, hinter denen sich Menschen auch wieder versammeln können. Wir müssen die Spaltungen, die wir derzeit erleben, überwinden. Überwinden und rückgängig machen, um uns auf einen gesellschaftlichen Grundkonsens zu einigen – einen Wertekanon, der geeignet ist, Zukunft weiterhin positiv zu gestalten. Weil Sie Spaltung sagen. Wie empfinden Sie denn diese Spaltung: Bautzen stand in jüngster Zeit auch in den Schlagzeilen. Ich meine nicht nur die Spaltung in den vergangenen 24 Monaten. Bereits in den 90er-Jahren gab es Menschen, welche wie ich zum Beispiel die neuen Möglichkeiten nutzen konnten. Andere hatten Pech. Zur falschen Zeit am falschen Ort oder ein Lebensalter, in dem kein beruflicher Neustart mehr möglich war. Firmen sind pleitegegangen, Erwerbsbiografien gebrochen. Familien und Freundschaften litten darunter. Das war in diesem Sinne für nicht wenige Menschen eine schlimme Zeit. Das wirkt nach. Fortschritt Landmaschinen war z. B.in unserer Region neben der Textilindustrie strukturbestimmend. Viele gute Facharbeiter und Ingenieure sind einfach entlassen worden. Diese Menschen trugen Potenziale in sich, die sie nicht mehr entfalten durften. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM) waren dafür keine Alternative –bestenfalls für den einen oder die andere eine Brücke. Andere dagegen, um auf mein Beispiel zurückzukommen, konnten eine ganz neue Entwicklung nehmen. Das war schon eine erste Spaltung. Eben eine Spaltung in Menschen, denen es durch Beruf und Einkommen recht gut ging und geht. Andererseits jene, die zwar das Potenzial hatten – teilweise noch haben –, die aber wegen des Mangels an bezahlter Arbeit den Anschluss verloren haben. Wie bereits erwähnt, wirkt das bis heute nach, da auch Renteneinkommen abhängig von Erwerbsbiografien sind. Eine weitere Spaltung bzw. Unterschiede gibt es in Deutschland regional. Das betrifft nicht nur Ost – West, sondern auch Nord – Süd oder Stadt – Land. Viele Menschen, die hier keine Arbeit oder Ausbildung fanden, gingen weg! Die sind woanders gut aufgeschlagen, bekommen dort Kinder und richten sich ein. Andere sind geblieben, mühen sich redlich und können wegen der unterschiedlichen Einkommensgefüge die Unterschiede nicht überwinden. Die großen Konzernzentralen sind im Westen. Wir haben hier mittlerweile eine hochinnovative, leistungsfähige, mittelständische Zulieferindustrie. Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung weist aber dort die großen Zahlen aus, wo die Endprodukte entstehen. In der Folge müssen wir uns hier anhören, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit im Osten dem Westen weiterhin hinterherhinkt. Das ist absurd und nicht geeignet, Spaltung zu überwinden. Und dann die Flüchtlingskrise. Sie löste Ängste aus und bringt bis heute ein kollektives Unbehagen über verschiedene gesellschaftliche Probleme zutage. Was meine ich damit? Der Auslöser einer großen Verunsicherung der Menschen war und ist die Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2008. Dadurch hat die Strahlkraft der westlichen Werte nachhaltig gelitten. Die damit in Verbindung stehende Niedrigzinsphase führt zu Fragen, auf welche es bis heute keine Antworten gibt. Was wird mit meinem Ersparten, meiner Rente? Kann ich mir im Alter überhaupt noch etwas leisten? Schließlich gibt es ja keine Zinsen mehr. Auch die Entwicklung der Gehälter und der Abstand zu den „Sozialeinkommen“ spielt eine große Rolle. Noch vor 20, 30 Jahren, konnte sich ein Facharbeiter mit einem relativ guten Einkommen ein Häuschen bauen, ein Auto und einen Urlaub leisten. Heute ist das durch die allgemeine Lohn- und Kostenentwicklung relativ schwierig geworden. Daran muss gearbeitet und das muss verändert werden. Ich hoffe, dass der gegenwärtige Fachkräftemangel auch in der Lausitz dazu führt, dass sich Einkommen und damit Kaufkraft entwickeln. Auch das letzte Unternehmen muss erkennen, dass zum Leben auch vernünftige Einkommen gehören. Ich habe hier im Landkreis Bautzen die Erfahrung gemacht, dass die Unternehmen, die mit ihren Mitarbeitern am besten umgehen, auch die erfolgreichsten sind. Das sind eine Menge Beispiele für Spaltungen in unserem Zusammenleben, bei dem vor allem politisches Handeln gefragt ist, um die Gesellschaft beieinanderzuhalten. Welche Probleme sind denn durch Ausländer in Ihrem Landkreis entstanden? Wenn ich von „Ausländern“ und „ Zuwanderung“ rede, dann gibt es zwei Bereiche: Asylrecht – für Leute, die uns brauchen – und Zuwanderungsrecht für Leute, die wir brauchen. Ab 2010 sind die Flüchtlingszahlen im unter anderem im Zusammenhang mit dem „Arabischen Frühling“ und den Interessen geleiteten Interventionen der Großmächte in West und Ost gestiegen. Ab 2011/12 haben wir im Landkreis nach neuen Quartieren für die Flüchtlinge gesucht. Das war damals schon ein schwieriger Prozess. Damals haben die Menschen in öffentlichen Veranstaltungen noch differenziert. Differenziert zwischen Menschen, die wegen Gefahr für Leib und Leben echte Fluchtgründe haben, und solchen, die aus rein wirtschaftlichen Interessen kamen. Mittlerweile hat sich zumindest die öffentliche Diskussion zugespitzt. Eine Differenzierung scheint nicht mehr stattzufinden. Auf Ablehnung stößt alles, was augenscheinlich fremd daherkommt. Das ist nach meiner Meinung ein großes Problem, welches wir zwingend überwinden müssen. Was ist dafür erforderlich? Nach meiner Meinung muss der Rechtsstaat Recht und Gesetze durchsetzen. Auch der im Jahr 2015 eingetretene Kontrollverlust des Staates ist als solcher zu benennen und in Zukunft zu verhindern. Gleichwohl müssen wir auch erkennen, dass es Menschen gibt, die wirklich aus Not hierherkommen, denen das Grundrecht auf Asyl zusteht. Ich glaube auch, dass Nächstenliebe eine der ersten Bürgerpflichten ist. Das ist eine der Grundlagen unserer Abendländischen Kultur. Auch deshalb braucht es eben eine Differenzierung und strikte Rechtsanwendung. Für den Bereich der Zuwanderung brauchen wir vernünftige Regeln und Maßstäbe. Menschen, die herkommen, um hier abhängig oder selbstständig zu arbeiten, sollten das auch tun können – unabhängig davon, woher sie kommen. Dazu gehört selbstverständlich der Nachweis, dass sie ihr Leben selbstständig und aus eigener Kraft bestreiten können. Wenn ich persönlich von Zuwanderung spreche, meine ich alles. Zuwanderung aus anderen deutschen Bundesländen sowie dem europäischen und außereuropäischen Ausland. Auch deshalb ist das Asylrecht grundsätzlich vom Zuwanderungsrecht zu trennen. Zurzeit sieht die Praxis anders aus. Im Bereich der Asylsuchenden schieben wir regelmäßig die Falschen ab. Es sind vielfach die Menschen, die ehrlich sind. Menschen, die ihre Ausweispapiere nicht weggeworfen haben, sich nicht verleugnen, die deutsche Sprache lernen und sich ausbilden lassen. Mit solchen guten Beispielen könnte man die Menschen auch wieder davon überzeugen, dass wir einerseits helfen müssen und andererseits eine gewisse Zuwanderung brauchen. In unserem Landkreis gehen bis 2030 doppelt so viele Menschen in Rente, wie unten in den Arbeitsprozess hineinwachsen. Allein aus diesem Grund brauchen wir Zuwanderung und eine damit in Zusammenhang stehende versachlichte Diskussion. Ohne eine Zuwanderung in den Arbeitsmarkt werden wir unseren Lebensstandard nicht halten können. Wie wichtig ist Ihrer Meinung nach die Braunkohle für die Lausitz? Ich bin auch im regionalen Planungsverband tätig, wo die Pläne für die Braunkohle erarbeitet, diskutiert und beschlossen werden. Ich glaube, dass wir die Braunkohle noch geraume Zeit brauchen. Die nächsten 20, 25 oder 30 Jahre. Wir sind ein Industrieland. Es weiß noch keiner, wie sich der Atomausstieg 2022 auf die Energiesituation in den Spitzen in Deutschland auswirken wird. Wir sind noch nicht so weit, die alternative Energie zu speichern. Man sollte auch bedenken, dass in die hiesigen Kraftwerke wie Boxberg oder Schwarze Pumpe sehr viel investiert worden ist, um sie den modernen Bedingungen anzupassen. Wo sehen Sie den Landkreis im Zusammenspiel der regionalen Akteure wie der Lausitzrunde, der Wirtschaftsinitiative Lausitz (WiL) oder der Wirtschaftsregion Lausitz GmbH? Wir sind dabei. Der Landkreis Bautzen hat zwar gegenwärtig keinen aktiven Bergbau und keine Kraftwerksstandorte. Uns ist aber klar, dass gerade im nördlichen Bereich viele Menschen in der Braunkohle arbeiten. Deshalb sind wir auch daran interessiert, dass der Strukturwandel hier vernünftig und erfolgreich läuft. Vor ca. drei Jahren wurden wir von den zuständigen Ministerien in Sachsen und Brandenburg aufgefordert, eine kommunal getragene, juristische Person zu bilden, um den Strukturwandel zu begleiten. Im Gespräch dafür waren die Marketing Gesellschaft Oberlausitz (MGO) aus Bautzen sowie die Energieregion Lausitz GmbH aus Brandenburg. Wir Landräte – und so auch ich – haben gesagt: „O.K.., machen wir.“ Meinerseits wurde aber immer die Frage gestellt, welches die Ziele dieser Gesellschaft sein sollen und auf welche Weise diese erreicht werden können. Und genau diese Zieldiskussion hat bisher noch nicht ausreichend stattgefunden. Das ist auch der Grund, warum wir als Landkreis Bautzen noch nicht beigetreten sind. Wir werden aber noch in diesem Jahr eine Entscheidung fällen und darüber befinden. Aus Sicht des Bundes und der Länder soll diese Gesellschaft eine gewisse Steuerungsfunktion übernehmen. Sie soll steuern, wohin die vom Bund zur Verfügung gestellten Gelder gehen. Meine Auffassung alternativ dazu ist folgende: Die Kohlegewinnung und Energieerzeugung verliefen im nationalen Interesse. Folglich hat der Strukturwandel in nationaler Verantwortung zu erfolgen. Eine Gesellschaft nach dem Vorbild der LMBV wäre wünschenswert. Warum? Es gibt definierte Budgets in den Haushalten des Bundes und der Länder, und es gibt klare Regeln unabhängig davon, ob man sich dies- oder jenseits der Landesgrenze befindet. Vor allem benötigen wir Planungsvereinfachung. Auch hier sind Bund und Länder zuständig. Von alldem sind wir leider noch weit entfernt.  In anderen Landkreisen gibt es „Rückkehrerinitiativen“. Versucht der Landkreis Bautzen so etwas auch? Seit fünf Jahren gibt es bei uns im Landkreis eine Initiative unter dem Label „Wieder da“. Wir sind von der Überlegung ausgegangen, dass die Leute, die weggegangen sind, weiterhin mit ihren Familien und Freunden Kontakt halten und in der Regel zwischen Weihnachten und Neujahr da sind. Die „Blaupause“ dafür stammte vom Erzgebirgskreis. Beim ersten Mal beteiligten sich zwölf Unternehmen. Es kamen erstaunliche 500 Leute an diesem 28.12.! Zum vergangenen Male, also am 27.12.2017, nahmen über 80 Unternehmen teil. Sie boten konkrete Stellen an und stießen auf ca. 700 Interessenten. Wir versuchen immer, ein Paket für die Leute zu schnüren. Es ist ja mit einer Arbeitsstelle nicht getan. Meistens hängt ein Partner mit dran, eventuell Kinder, und damit machen wir die Problemfelder Kita, Schule und Wohnen mit auf. Wir versuchen also, die ganze Familie gleich mit aufzufangen. Und damit sind wir sehr erfolgreich. Ein weiterer Rückkehrer spielt in Ihrem Landkreis eine immer größere Rolle: der Wolf. In der Lausitz existiert in Relation zur Fläche und Einwohnerdichte, wie ich jüngst las, die größte Wolfsdichte in Europa. Das ist sicher einerseits touristisch attraktiv, aber auch problematisch für die Viehzüchter und die Landwirtschaft. Wir sind in Sachsen der flächengrößte Landkreis. Landwirtschaft spielt bei uns eine große Rolle. 42 Prozent der Kreisfläche werden landwirtschaftlich genutzt. Landwirtschaft ist Arbeit, Ausbildung, aber auch Landschaftspflege, Tradition und Kultur. Da wird unheimlich viel geleistet, was die Menschen meistens gar nicht so sehen. Das Problem mit dem Wolf ist, dass er keine natürlichen Feinde hat. Die Population, derzeit 15 Rudel, entwickelt sich jedes Jahr um 30 Prozent. Das heißt, alle drei Jahre gibt es eine Verdopplung. Der Wolf ist streng geschützt, denn Artenschutz ist ein hohes Gut. Dazu bekenne ich mich auch. Unabhängig davon kritisiere ich die unregulierte Ausbreitung der Spezies Wolf. Der gegenwärtig geltende Rechtsrahmen wurde in Zeiten geschaffen, in denen es in Mitteleuropa keine Wölfe gab. Nun ist der Wolf wieder da, was ein Zeichen für die Rekonvaleszenz unserer Kulturlandschaft ist. So weit, so gut. Der Wolf besitzt keinen natürlichen Feind. Durch das relativ große Nahrungsangebot in unseren Breiten entwickelt sich die Population rasant. Das führt zunehmend zu Konflikten mit der Nutztierhaltung. In Sachsen wie auch in Brandenburg existieren sogenannte „Managementpläne Wolf“. Darin sind unter anderen Herdenschutzmaßnahmen und deren Förderung beschrieben. In der gelebten Praxis muss aber zur Kenntnis genommen werden, dass die Herdenschutzmaßnahmen teilweise unbrauchbar und für Tierhalter unzumutbar sind. Die wirtschaftliche Situation schafhaltender Betriebe ist schon heute davon gekennzeichnet, dass bei einer Vollkalkulation kaum ein Mindestlohnniveau erreicht wird. Jede zusätzliche Belastung führt zur weiteren Unwirtschaftlichkeit bis hin zur Betriebsaufgabe. Für Halter kleinerer Bestände (Hobbyhaltungen und Züchter) gilt Ähnliches. Die Tiere werden aus Passion und wegen der Liebe zur Natur gehalten. Wirtschaftliche Erwägungen spielen in der Regel keine Rolle, sodass die Aufgabe der Bestände in diesem Sektor noch schneller voranschreitet. Hält die Situation nur noch wenige Jahre unverändert an, werden wir in Bälde keine Nutztierbestände als Weidetierhaltung mehr vorfinden. Letzteres betrifft auch Mutterkuhherden neben anderen. Wir leisten uns einerseits eine philosophische Diskussion um Massentierhaltungen und entziehen der artgerechten Weidetierhaltung die Grundlagen. Deshalb setze ich mich auch weiterhin vehement für eine Regulation der Wolfsbestände ein. Das hilft der Weidetierhaltung und dem Artenschutz. Interview: Heiko Portale


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