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Ein Küsschen für die letzten 70 Jahre

Der rote Teppich ist ausgerollt. Über ihn spazieren statt der Promis die Geburtstagsgäste: Die Zuschauer werden zur Premiere des Geburtstagsspektakels ,,Wir sind 70! Das Fest“ an der Neuen Bühne von klickenden Fotoapparaten der Mitglieder des Seniorentheaterclubs begrüßt.
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Für Theaterballatmosphäre sorgten auch die Schauspieler als Showtänzer. Foto: Weser

Für Theaterballatmosphäre sorgten auch die Schauspieler als Showtänzer. Foto: Weser

Mit dem ,,Fest“ startet das Senftenberger Theater mit vier Stücken, darunter zwei Uraufführungen, und  einem Theaterball in die neue Spielzeit. Das Spektakel wird bis zum 12. November bei weiteren zwölf Veranstaltungen zu sehen sein. Wenn man 70 wird, schaut man auf die eigene Vergangenheit zurück, denkt an Vollbrachtes, wie die Gegenwart ausschaut und was die Zukunft bringen kann. Das macht das 1946 mit Billigung der sowjetischen Militäradministration gegründete Theater ebenso und verbindet eigene Geschichte mit der des Landes. Grenze aufgemacht Mutig startet das Ensemble unter Intendant Manuel Soubeyrand den Festabend mit dem Knackpunkt deutscher Nachkriegsgeschichte: der Öffnung der Grenze 1989. Rainer Schwochows preisgekrönter Fernsehfilm „Bornholmer Straße“ ist nicht leicht auf eine Theaterbühne zu holen, aber der Bühnenfassung von Jörg Steinberg gelingt das in der Senftenberger Inszenierung von Maren Simoneit und mit Regisseurin Sonja Hilberger. „Ich habe heute Nacht die Grenze aufgemacht“, teilt Oberstleutnant Schäfer seiner Frau zu Hause mit, selbst noch nicht im Klaren, „was mit unserem Land passiert ist“. Keine Maus schafft es durch die sicherste Grenze der Welt, sind die Genossen der Grenztruppen am Übergang Bornholmer Straße überzeugt, aber dann schafft es fast ein Hund und wenig später tönt es „Macht das Tor auf“. Das Stück zeigt Verunsicherung, Angst, Aggressionen nach der diffusen Schabowski-Nachricht von der Grenzöffnung. Es gibt keinen Befehl, die Genossen „ganz oben“ ducken sich weg, plötzlich müssen die „Grenzschützer“ nach eigenem gesunden Menschenverstand entscheiden. Menschlichkeit vorhanden Die dokumentarische Komödie erzählt vom Ende der DDR und rückt dabei die Menschen an der Grenze in den Mittelpunkt, ohne sie in Schwarz-Weiß-Lesart zu verunglimpfen. Vor allem Friedrich Rößiger als Oberstleutnant Schäfer gelingt es, den Charakter des Mannes zwischen Treue zum Staat DDR und dämmernder Erkenntnis nicht aufzuhaltender Veränderung glaubhaft auf die Bühne zu bringen. Seine Menschlichkeit ist nicht verloren gegangen: er öffnet den Schlagbaum. Schonungslos Drei nebeneinander liegende Zwischenstücke, der Zuschauer muss sich im Vorfeld entscheiden, knüpfen an den Wendepunkt deutsch-deutscher Geschichte an. „Der Senftenberger Weg“ verbindet mit einer Collage von Texten Erwin Strittmatters, Brigitte Reimanns, Volker Brauns und anderen mit der Region verbundenen Autoren Aufbruchstimmung früherer DDR-Jahre mit ersten Zweifeln und Widersprüchen. Jörg Hückler und Esther Undisz führen mit Mimen wie Heinz Klevenow und Catharina Struwe den Senftenberger Weg zum „freien Grund mit freiem Volke“, Goethe ist bis in die Gegenwart allgegenwärtig. „Birkenbiegen“ von Oliver Bukowski ist als Uraufführung ein hartes Aufeinandertreffen zwischen einem Nachwendegewinnerpaar, das sein Heil im Westen gesucht hatte und einem dagebliebenen, abgehängten Wendepaar. Bukowski spitzt zu, legt schonungslos Wahrheiten offen und stellt Fragen, die der Zuschauer für sich beantworten muss. Beeindruckend gibt der vom Film bekannte Michael Kind als Gast zum Beispiel das Porträt des Ost-Vaters. Ruby und Karl konfrontieren als fast erwachsene Kinder mit Problemen wie Schwulsein und Mut gegen dumpfe Fremdenfeindlichkeit. Vorurteile Mit Vorurteilen spielt auch das Stück „Phantom“ von Lutz Hübner und Sarah Nemitz: zwischen platten Pegida-Parolen, der ausgenutzten Bulgarin Blanca, eindringlich von Marianne Helene Jordan gespielt, und einem ausgesetzten Kind. In den Pausen kann der Besucher ausführlich in die von Hans-Peter Rößiger kuratierte Ausstellung zur Geschichte des Senftenberger Theaters eintauchen. Für das Spektakel als ,,Fest“ boten   Vorspann und Pausen außer Versorgung noch nicht viel, aber nach anspruchsvoller Bühnenkost schafften Theaterleute und Besucher schnell den Sprung zum lustbetonten Ballvergnügen. Mit großem Aufwand umgebaut präsentieren sich Theatersaal und Bühne samt Magazin als Ballsaal. Die Damenkapelle spielt auf und Schauspieler zeigen im Look der Fünfziger, dass sie tolle Showtänzer sein können.       (Jürgen Weser)Neue Bühne Senftenberg


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