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»Diskrepanz im System«

Region. Auf unseren Artikel zum Bildungssystem gab es viel Feedback. Gemeldet haben sich vor allem Lehrerinnen und Lehrer, die hier zu Wort kommen.

Auf unseren Artikel haben sich viele Lehrerinnen und Lehrer bei uns gemeldet und ihre Sicht der Dinge geschildert.

Auf unseren Artikel haben sich viele Lehrerinnen und Lehrer bei uns gemeldet und ihre Sicht der Dinge geschildert.

Bild: WochenKurier

Als Antwort auf unseren »Artikel Bildungssystem vor dem Kollaps?« schreibt und A. Schröter: »Für mich als Lehrerin besteht eine große Diskrepanz in dem generellen System.« Sie hat als Grundschullehrerin in Sachsen gearbeitet und die »Schattenseiten für mich und eines meiner Kinder kennengelernt«. An den Universitäten werde vermittelt, dass Lernen bedürfnis- und bindungsorientiert gestaltet werden soll, weil intrinsische Motivation die stärksten Lernerfolge hervorbringe. »Unser Schulsystem ist noch autoritär. Das musste ich im Referendariat erfahren. Besonders auch im ländlichen Raum«. Die Rahmenbedingungen seien oft gegensätzlich zu dem, was gelehrt werde, was dazu führe, dass viele werdende Lehrer die Ausbildung abbrechen. »Versucht man es doch, kommt man schnell an die eigenen Grenzen der Belastbarkeit.« Noten in der Grundschule würden außerdem viele Schüler demontieren und seien aus ihrer Sicht nicht sinnvoll. »Kinder wollen lernen auch ohne Noten.« Sie habe ihr Kind in die Schkoola geben wollen, aber keinen Platz bekommen. Zuhause dürfe man die Kinder nicht beschulen, da dann Bußgelder drohen. »Für mich sollte unsere Bildungslandschaft mehr auf Freiwilligkeit und Offenheit beruhen. So wie die Familienleben immer vielfältiger werden, so vielfältig wird auch das Lernen und die Möglichkeiten, etwas zu lernen.«

 

Es fehlt die Selbstreflektion

 

»Viele Probleme in der Schule sind meiner Meinung nach hausgemacht«, schreibt uns eine Grundschullehrerin, die ihren Namen lieber nicht in der Zeitung lesen möchte. Aus ihrer Sicht ist ein entscheidender Faktor eine gute Bindung/Beziehung zwischen Lehrer und Schülern. Leider werde das in der Ausbildung nicht gelehrt. »Eine Selbstreflektion der Erwachsenen, um die Fehler der vorherigen Generation nicht zu wiederholen, fehlt bei den meisten meiner Kollegen.« Sie kritisiert auch den Umgang mit Problemen. Sie habe an Schulen Ausgrenzungen, Diskriminierungen, Mobbing und Rechtsextremismus erlebt. Schulleitungen würde das als »nicht vorhanden« behandeln und aussitzen. Schulräte und Schulaufsicht hätten sie bei solchen Themen wieder an die Schulleitung zurückverwiesen, da man nicht zuständig sei. »Wenn ich nicht locker lasse, bietet man mir eine Umsetzung an oder die Hilfe beim Verlassen des Bundeslandes.«

 

Methodik nicht immer zielführend

 

Eine Lehrerin aus Brandenburg, die anonym bleiben möchte, will die Aussage »Nicht nur Lehrmethoden sind veraltet« im Text so nicht stehen lassen. »Ich glaube nämlich das Gegenteil, wir müssen zu einem methodisch fundierten, sehr gut strukturierten Unterricht, mit klaren Regeln und ruhiger Unterrichtsatmosphäre zurückkehren«, schreibt sie uns. Das sei in großen Klassen mit vielen Schülern mit Förderbedarf die Grundvoraussetzung für zielführendes Lernen. »Ich glaube, dass viele Lernprobleme gerade daraus resultieren, dass die Methodik in den letzten Jahren und Jahrzehnten nicht immer zielführend war«. Als Beispiel nennt sie die Methode »Lesen durch Schreiben«. Die habe aus Sicht der Lehrerin dazu geführt, das die Schreibkompetenz der Schüler immer schlechter wurde. »Heute sind wir wieder genau bei der Leselernmethode angelangt, die vor 30 Jahren Schülergenerationen das Lesen und Schreiben erfolgreich beigebracht hat.«

In Sachen Digitalisierung fehle es an Fachkräften, die die Technik einsatzbereit halten. „Wenn ich in meiner Klasse zum Beispiel ein Jahr alte Laptops benutzen möchte, sind zwar genug Geräte vorhanden, aber die Hälfte der Geräte ist nicht nutzbar, weil der Akku nicht hält oder gerade Updates gemacht werden oder ein sonstiger Defekt vorhanden ist“, schreibt uns die Lehrerin. Als Lehrkraft könne man sich nicht um 27 Schüler, die Vermittlung von Lerninhalten und gleichzeitig um die Technik kümmern.

 

Elternhäuser können viel leisten

 

Annegret Girodi brennt ein anderes Thema unter den Nägeln. Sie bekomme als Lehrerin die Missstände im Bildungssystem mit. Ein Aspekt wird ihrer Meinung nach dabei mit Blick auf die abnehmenden Schulleistungen außer Betracht gelassen: die Elternhäuser. "Nicht umsonst heißt es Muttersprache. Aber dazu müsste in den Familien gesprochen und (vor)gelesen werden. Den Kindern fehlt ein Allgemeinwissen und ein ausreichender Wortschatz, um Schulerfolge zu verzeichnen." Freizeitgestaltung sei oft gleichzusetzen mit Medienkonsum. Freunde treffen, rausgehen und miteinander agieren sei nicht mehr die Regel. "Vereinsamung vor Spielkonsolen und Handys ist nicht unüblich. In den sozialen Netzwerken ist ein stenografischer Schreibstil Normalität. Emojis ersetzen oft ganze Sätze", schreibt uns die Lehrerin. Schule müsse ordentlich nachholen, aber bis das geschieht, könnten Elternhäuser aus ihrer Sicht schon viel leisten.

 

Ganzheitliche Bildungskonzepte fehlen

 

Gemeldet hat sich auf unseren Artikel hin auch der Deutsche Paritätischer Wohlfahrtsverband. Man bot Unterstützung an und benannte gleichzeitig Spannungsfelder, etwa die hohen Ausfallzeiten in Kitas und damit verbundene Einschränkung der Bildungsqualität, fehlende ganzheitliche Bildungskonzepte für die Entwicklung von Lebens- und Lernkompetenzen in einer komplexer werdenden Gesellschaft und fehlenden Wissensaustausch zwischen staatlichen Schulen und freien Schulen.

 

Es geht ums Geld

 

"Die Situation im Bildungsbereich hat sich in den letzten Jahrzehnten kontinuierlich verschlechtert. Obwohl dieser Trend offensichtlich war, hat die Politik weggeschaut", schreibt uns Lehrer Thomas Süß. Durch falsche Einschätzung der Schülerzahlen seien Schulen geschlossen und Lehrer auf Teilzeit gesetzt worden. Jetzt müsse teilweise in Containern unterrichtet werden, weil die Plätze nicht reichen. "Parallel dazu wurde das Berufsbild des Lehrers kontinuierlich demontiert und der Beruf immer unattraktiver." Man habe die Verbeamtung über Jahrzehnte abgelehnt, dann aber doch zu diesem Mittel gegriffen, um Nachwuchs zu gewinnen. "Damit begann die Spaltung der Lehrerschaft in Angestellte und Beamte mit unterschiedlicher Bezahlung und gleichen Aufgaben", so Süß.

 

Auch die Argumentation, dass der Lehrermarkt leer sei, will er nicht gelten lassen. Es gab und gibt ausreichend junge Lehrer, die kein Referendariat bekommen. Er bekomme den Eindruck, dass viel getan wird, um keine Lehrer einstellen zu müssen und dass es letztlich ums Geld gehe, das eben im Bildungsbereich fehle. "Junge Lehrer und Referendare wurden nicht in den Schuldienst übernommen und sind an die Privatschulen abgewandert. Die Zugangsvoraussetzungen zum Lehrerstudium wurden so angepasst, dass gerade zum Beispiel im Bereich der Grundschullehrer der Zugang zum Studium erschwert wurde und auch heute noch wird. Teilweise wandern berufswillige Lehrer in andere Bundesländer ab, wo die Zugangshürden niedriger sind. Zum Beispiel von Sachsen nach Bayern." Das führe zu immer größeren Klassenstärken und einer zunehmenden Belastung des überalterten Personals, das habe auch viele Lehrer krank gemacht. Zwischen den alten und den sehr jungen Lehrern würden außerdem eine oder zwei Generationen fehlen, was sich auf die Weitergabe von Informationen im Sinne eines Generationenvertrages auswirke. Die getroffenen Maßnahmen werden aus seiner Sicht das Problem nicht lösen. "Man will die vorhandenen Lehrer länger arbeiten lassen, was genau zu mehr Belastung, Krankheit und Ausfällen führt. Es macht den Beruf noch unattraktiver für neue Bewerber. Man verhindert Teilzeitregelungen, was ebenfalls kontraproduktiv ist. Es gibt Überlegungen, dass ein Lehrer zwei Klassen betreut, die eine vor Ort und die andere Klasse online. Man streicht Zusatzangebote und kürzt Lehrpläne", so Süß. Die Digitalisierung sei übergestülpt, Lehrer ohne ausreichende Schulungen und Unterstützung mit der Technik allein gelassen worden.

 

Auch fehle es an einem einheitlichen Bildungssystem. "Der Föderalismus ist aus meiner Sicht eher hinderlich. Denn dadurch entsteht in Deutschland ein immer weiter ausgeprägtes Bildungsgefälle. Inzwischen kann man in Sachsen-Anhalt Lehrer werden, ohne dass man ein Abitur hat. Die so genannten Quereinsteiger werden letztendlich ‚geopfert' und nur wenige schaffen es." Auch die Schwankungen bei der Ausbildung sieht er kritisch, nennt als Beispiel die Grundschullehrer in Sachsen. Die wurden zunächst in Dresden ausgebildet, dann wurde die Ausbildung nach Leipzig verlegt, was zu Verlusten im Lehrerkontingent geführt habe. Dann ging es wieder zurück nach Dresden. "Ein weiterer Aspekt betrifft die unterschiedlichen Abschlüsse, die im Osten erworben werden können. Während ältere Lehrer in der Regel als Diplomlehrer ausgebildet wurden, schwankte man im Osten nach der Wende zwischen Bachelor- und Master-Abschlüssen und ist inzwischen wieder bei erstem und zweitem Staatsexamen gelandet. All diese Veränderungen haben dazu geführt, dass Bestand verloren gegangen ist." Insgesamt sei die Situation im Bildungsbereich in Deutschland sehr komplex. Die zahlreichen Baustellen müssten aber dringend angegangen werden, um den Bildungsbereich wieder auf ein angemessenes Niveau zu bringen.

 

Ihre Meinung zählt

Wenn Sie als Elternsprecher oder Lehrer Schwierigkeiten haben, vor Herausforderungen stehen, Kritikpunkte oder Hinweise äußern möchten, dann bitten wir Sie, uns Ihre Erfahrungen mitzuteilen. Gern können Sie uns eine E-Mail an aktion@wochenkurier.info  (Betreff "Bildung") senden.


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