

Pulvermanns Grab. Der Kamenzer Marvin Jüngel gehört zu den wenigen Reitern weltweit, die dieses berüchtigte Hindernis des Hamburger Springderbys fehlerfrei bewältigen konnten. Wenn sich der schlaksig-wirkende junge Mann in diesen Tagen mit seiner Stute Balou‘s Erbin im heimischen Hausdorf auf seine dritte Derbyteilnahme vorbereitet, dürften vermutlich Erinnerungen an die gefürchtete Dreifachkombination hochkommen. Dieses aus zwei Steilsprüngen bestehende Hindernis, zwischen denen ein Wassergraben liegt. Besonders tückisch: es verläuft durch eine 15 Meter lange Senke, in die es nach dem ersten Sprung steil bergab und nach dem 1,70 Meter breiten Wassergraben bergauf über den zweiten Sprung geht. Ein berühmtes Hindernis, bei dem Pferd und Reiter zu Legenden werden können.
Ein sonniger Märztag. Man trifft den 23-Jährigen im Reitstall, einem Tag, der wie fast jeder in seinem Leben »strukturiert und durchgetaktet“ ist«, wie er erzählt. Im Mittelpunkt seines Alltags: die Pferde. Bereits ab 8 Uhr sitzt der gelernte Bürokaufmann im Sattel. Rund 25 Turnierpferde stehen gegenwärtig im elterlichen Stall. Jüngel reitet täglich bis zu acht Rösser, die übrigen werden von seinem Team bewegt. Sein Lieblingspferd Balou‘s Erbin macht an diesem Vormittag in der Koppel einen entspannten Eindruck. Ihr gehe es gut, lächelt er. Mit der 16-jährigen Stute will der junge Kamenzer in knapp drei Monaten beim 94. Deutschen Springderby in Hamburg Klein Flottbek (28. Mai bis 1. Juni) starten. 2023 und 2024 hatte er, zum Erstaunen der internationalen Reitsportwelt, das Derby überraschend gewonnen. Balou sei schon recht fit, so Jüngel. »Sie kann schon locker zehn Minuten am Stück galoppieren.« Ziel: Am Ende der Vorbereitungszeit soll die Stute einen 40-minütigen Galopp mühelos bewältigen können. Wichtig: Denn für den Hamburger Parcours, der mit seinen rund 1.250 Metern dreimal so lang ist wie eine normale Prüfung, brauchen Pferde enorm viel Kondition. Bei Jüngels dritter Derbyteilnahme wird einiges anders sein. Vor allem das: »Ich bin nicht mehr Außenseiter, sondern einer der Favoriten«, so Jüngel. Klingt nach viel Druck. Oder? Er schaut ernst. Naja, mal schauen, meint er. Vom Favoritendasein will er jedenfalls erst mal nichts wissen.
Mit Pferden aufgewachsen
Der Weg in den Reitsport war schon in seiner Kindheit vorgezeichnet. Im elterlichen Hof in Hausdorf wuchs er mit Pferden auf. Ritt sein erstes Turnier im Alter von zehn Jahren, ist seitdem an fast jedem Wochenende auf Turnieren unterwegs, im ganzen Land. Die Erfolge im Hamburger Springderby haben ihn bekannter gemacht. Auch in der Region. Ach, beschwichtigt er, in der Kamenzer Umgebung kenne man ihn doch sowieso. Aber sicher, wenn er in der Republik unterwegs ist, wird er mittlerweile hier und da erkannt. Genießt er die Popularität? Schulterzucken, er gibt nicht so viel darauf. Man weiß von Reitern, die nach Siegen in bedeutenden Turnieren die Bodenhaftung verloren haben. Und er? »Mache mir da keine Sorgen, meine Familie und meine Freundin passen auf, dass ich auf dem Teppich bleibe.« Und überhaupt: »Auf unserem Hof gibt es eine Menge zu tun, ich bin keiner, der nach Erfolgen andere für sich arbeiten lässt.« Außerdem brauche er das, das Bodenständige, geerdet zu sein.
Selbstständig mit Pferdeschule
Das schätzt er, der sich seit kurzem als »Bereiter« selbstständig gemacht hat. Heißt: Er betreibt eine Pferdeschule, erzieht und bildet Pferde aus, auch die, mit denen deren Besitzer nicht zurechtkommen. Und ja, Pferde verkauft er ebenfalls. Sein Ruf, seine Fähigkeiten, mit Vierbeinern umzugehen, sie zu verbessern und zu guten Turnierpferden zu entwickeln, hat sich nach den beiden Derbysiegen in der Amateurreiterszene herumgesprochen. Anfragen für den Reitunterricht, den er von Montag bis Mittwoch gibt, haben zugenommen. Es kommen auch viele junge und erwachsene Freizeitreiter, die von ihm lernen wollen.
Mit Balou, seiner turniererfahrenen Stute, möchte er »das Hamburger Derby gewinnen«. Noch ein einziges Mal. Dann dürfe »die Zicke«, wie er sie gelegentlich liebevoll nennt, in den wohlverdienten Pferde-Ruhestand. Aber bevor es soweit ist, werden die beiden noch eine Menge Zeit auf dem Reitplatz und im Gelände verbringen. Wird Jüngel dabei immer wieder an die 17 Hindernisse und 24 Sprünge des schwersten Parcours der Welt denken. Und an Hindernis Nummer 14: Pulvermanns Grab.