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Birgit Branczeisz/ck

Welche Toten sind uns wichtig?

Dresden. Eine Kommission soll ab Juni entscheiden, welche historischen Gräber zu Denkmalen werden. Das hat auch Konsequenzen für Straßen, Plätze oder Einrichtungen.

Nirgends schreit uns die Frage, wie wir mit uns umgehen, lauter entgegen, als an diesem stillen Ort. Keine Ablenkung – nur eine stummes Vorbeigehen an Grabstätten. Auf einem Friedhof, der noch ruhiger ist als andere – denn der St. Pauli Friedhof ist aufgegeben. Die Kirche hat 2016 die Schließung angeordnet. 18 Jahre noch, dann ist Schluss. Bis dahin dürfen nur noch Angehörige in bestehende Gräber oder schon gekaufte Grabstellen gelegt werden. Dabei wäre auf dem elf Hektar großen Areal Platz für etwa 30.000 Gräber. Nur dass die keiner mehr füllt. Es wird weniger gestorben und selbst wenn, braucht der moderne Tote weniger Platz. Bestenfalls in einer Urne, wenn nicht gar vom Winde verweht oder namenlos.

Zurück bleibt ein traumhafter Baumbestand aus dem 19. Jahrhundert und die Frage: Was soll aus den Gräbern werden?

 

Viel Diskussionsstoff

 

Holger Hase, Dresdens FDP-Chef und Dozent für Militärgeschichte an der Offiziersschule des Heeres, treibt diese Frage um. Er engagierte sich früher in der Kriegsgräberfürsorge und leitet heute den Verein Denk Mal fort! – Die Erinnerungswerkstatt Dresden. Jetzt ist er in einer Kommission, die im Juni an die Arbeit geht, um diesen Fragen nachzugehen: »Welche Gräber sind uns so wichtig, dass sie für spätere Generationen als Denkmale erhalten bleiben sollen?«, »Wer ist uns wichtig und wer nicht?« Eine unchristliche Frage. Schlimmer noch: »Wie viel Geld wollen wir für ‚wichtige Persönlichkeiten‘ ausgeben?« Da wird es schnell unangenehm und Holger Hase weiß, hier kommt das Gremium aus Stadträten, Experten und Amtsleitern der Stadt nicht um politische Entscheidungen herum.

Wie fragil die Faktenlage ist, kann Holger Hase erklären: Es gibt eine Liste aus dem Jahr 1987 mit mehreren hundert Namen wichtiger Dresdner Persönlichkeiten. Es ist das letzte offiziell abgesegnete Dokument vom Rat der Stadt Dresden. Das heißt: Für diese Gräber muss Geld bereitgestellt werden. »Wir haben aber auch Namen, die später auf der Liste dazugekommen sind, ohne Beschluss. Für die gilt das natürlich nicht. Sagt man dann, wir leisten uns nur die ersten 300 Personen? Außerdem: Die Liste wurde 1987 geschrieben! In der Endphase der DDR sind verdiente Funktionäre aufgenommen worden, darüber wird man reden müssen«, ist er sich sicher.

Die Diskussionen um Rainer Fetscher oder Carl Gustav Carus lassen ahnen, was da auf Dresden zukommt. Neubewertung, Kulturkampf, Deutungshoheit, Bilderstürmerei – es gibt viele Namen für das was gerade passiert. Jüngstes Beispiel: Lili Elbe. Nach ihr wurde jetzt eine Straße benannt und damit »eine frühe intersexuelle Pionierin geehrt, die sich vor über 90 Jahren in der nahegelegenen Frauenklinik geschlechtsangleichenden Operationen unterzog«, so eine Pressemitteilung der Stadt. Ihr Grab wurde vor gut zehn Jahren sogar neu angelegt.

 

Es geht um Selbstverständnis

 

Das zeigt: Es geht keineswegs nur um Gräber oder Denkmäler, die irgendwo stehen – es geht um unser Selbstverständnis. Darum, wie wir mit schwierigen Fragen umgehen. Ob Straßennamen, Ehrenbürgerschaft oder Denkmal – die Diskussionen werden jetzt erst richtig losgehen. Keine Epoche scheint davon ausgenommen. Zum Beispiel Georg v. Metzsch-Reichenbach. Das Wandgrab bröckelt, steht aber nicht auf der DDR-Liste. Metzsch war seit 1905 Ehrenbürger der Stadt Dresden. Er war von 1891 bis 1906 sächsischer Innen- und Außenminister sowie von 1901 bis 1906 Vorsitzender des Gesamtministeriums des Königreichs Sachsen. Heute würden wir sagen, Ministerpräsident.

Hase: »Da müssen wir auf alle Fälle reden.« Das dürfte schwierig werden, denn v. Metzsch hat das Dreiklassenwahlrecht in Sachsen wieder eingeführt, um die SPD aus dem Landtag fernzuhalten. Was also tun? Alle Personen mit entsprechendem Titel für erhaltenswert erklären? Oder doch eher bekannte Namen? Wie den berühmten Unternehmer Franz Ludwig Gehe, dessen künstlerische Grabanlage noch sehr gut gepflegt wird? Die fast unscheinbare, aber gepflegte Grabstelle des Orgelbauers Jehmlich? Den ehemaligen Minister General v. Fabrice, sächsischer Kriegsminister, der die Dresdner Albertstadt bauen ließ? Oder doch lieber Ida und Franz Augustin, die in Erich Kästners weltberühmten Büchern liebevoll beschrieben sind?

 

Auch Kriegstote sind betroffen

 

Den Kriegstoten geht es nicht besser. Es gibt solche mit ewigem Ruherecht laut Gräbergesetz und solche, die dem Vergessen anheimgestellt sind. »Das Kriegsgräbergesetz gilt ab dem Ersten Weltkrieg, beim Krieg 1870/71 drückt man meistens noch ein Auge zu, aber bei allen davor nicht«, sagt Holger Hase und zeigt auf ein Denkmal für Kriegstote von 1866. Der Monolith mit hunderten Namen aus dem Krieg Preußen–Österreich verfällt. Vielleicht gäbe es Fördergeld, aber dafür müsste jemand den Eigenanteil aufbringen.

Holger Hase sieht nicht nur das fehlende Geld, sondern auch »wenig Sensibilität«. Ein großes weißes Marmor-Kreuz erinnert an hunderte französische Kriegsgefangene 1870/71. Rechts und links schließen sich Urnengräber an. »Die wurden einfach über die Franzosen gelegt. Das geht nicht.«

Entlang der Mauer hat man der Trauer dagegen neuen Raum gegeben. Die Dresdner erinnern mit vielen neugestalteten Täfelchen an 183 Säuglinge und Kleinkinder, die in der »Pflegestation« Lager Hellerberge gestorben sind. In den Sandgruben arbeiteten osteuropäische Zwangsarbeiterinnen, deren Babys der Kategorisierung in (un-)wertes Leben und damit der bewussten Vernachlässigung zum Opfer fielen.

Die Gräber der Toten von Krieg und Gewaltherrschaft müssen erhalten werden. Auch das der über 200 Bombenopfer, die auf dem St. Pauli Friedhof zusammengebettet wurden, hat den Status »ewiger Ruhe«. Auf einem Steinblock sind ihre Namen graviert. Doch der ist verwildert, Unkraut, Kahlstellen – würdig ist das nicht.

 

Sterbender Friedhof

 

Wie würdig ein sterbender Friedhof sein kann, auch die Frage stellt sich. Derzeit wird in eingebrochenen Grüften Grünschnitt und Müll entsorgt. Kreuze, Figuren oder Inschriften auf Grabplatten fehlen – ohne Verweis, was damit passiert ist. Rot-weiße Absperrbänder grenzen Areale ab, Wege sind teils unbegehbar. Auch das Aufgeben eines Friedhofs sollte in Würde geschehen. Trotzdem findet Holger Hase die Debatte wichtig. »Wenn Straßen und Plätze nur noch die Namen von Wiesenblumen tragen, entfernen wir uns ganz von Geschichte. Solche Diskussionen müssen auch manchmal wehtun.«


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