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Tanz mit einem gesunden Schuss Verrücktheit

Dreiteiliger Ballettabend „100 Grad Celsius“ begeistert Publikum der Semperoper

Frenetischen Beifall ernteten die Tänzerinnen und Tänzer des Semperopern-Balletts für ihren dreiteiligen Ballettabend „100 Grad Celsius". Mann kann Verschiedenes in diesen Titel hinein deuten, der die Kreationen von drei weltbekannten Choreographen vereint. Man kann aber auch einfach nur die Ästhetik des Tanzes genießen. Dem erste 27-jährigen Justin Peck hat es das Klavierkonzert D-Dur von Bohuslav Martinu angetan, das dieser bereits vor 100 Jahren schrieb. In seinem Stück „Heatscape“ (Deutsch: Hitzelandschaft) hat Peck diese Musik, in der festliche Barockmusik mit Elementen des Jazz und böhmischer Volksmusik gemischt ist, in Tanz umgesetzt. Die Tänzerinnen und Tänzer entfachen ein wahres Feuerwerk der Lebenslust in immer neuen Formationen. Man spürt förmlich die Sonne Miamis, unter deren heißen Strahlen er seine Kreation schuf. Das Bühnenbild mit einem riesengroßen Mandala in strahlenförmiger Symmetrie unterstreicht diesen Eindruck noch. Das harmonische Zusammenspiel von Visuellem, Bewegung und Musik ist einfach verblüffend. Um so mehr verwundert es, dass ein so  temporeiches, pulsierendes Stück, das schon 2015 uraufgeführt wurde, erst jetzt über den großen Teich zu uns „herüberschwappt“. Die Compagnie der Semperoper unter ihrem Chef Aaron Watkin kann jedenfalls stolz darauf sein, die europäische Erstaufführung auf die Bühne gestellt zu haben. Übertroffen wurde diese nach einer Paus allerdings mit „Gods and Dogs“  des tschechischen Choreographen Jiri Kylian. „Es kann keine positive Entwicklung ohne einen gesunden Schuss Verrücktheit stattfinden“ schrieb Kylian im November 2008, als sein Kreation zum ersten Mal aufgeführt wurde. Ihn fasziniert die Grenze zwischen Normalität und Wahnsinn, die er bis ins Letzte auslotet. Musikalische Grundlage dafür ist der 2. Satz des F-Dur Streichquartetts von Beethoven, den der zeitgenössische Komponist ins Zentrum seiner eigenen Komposition stellt. Im wiegenden 9/8-Takt führt uns der Satz durch eine Welt voller Schmerz und Leidenschaft. Gleich zu Beginn erklingt ein maschinenartiger Mahlton, der immer lauter und bedrohlicher wird. Dazwischen unheimliche Streicher- und Klaviertöne, paukenhafte Schläge und elektronische Musik. Die durch den Raum schwebt. Nur die Video-Einblendungen irritieren etwas. Deshalb ist es  besser, sich auf die Tänzerinnen und Tänzer zu konzentrieren, die diese Musik in dynamische Bewegung umsetzen. Kein Wunder, dass es für die Zuschauer zum Schluss kein Halten gab. Viele sprangen auf und applaudierten begeistert, andere trampelten mit den Füßen. Bravo-Rufe erklangen. Konnte man nach dieser Euphorie überhaupt noch ein drittes Stück aufnehmen? Man konnte, wie die Uraufführung des „Corpse de Ballet“ des israelischen Choreografen Hofesh Shechter zeigte, der auch die Musik dazu schrieb. Im Programmheft wird erläutert, dass Shechter im Titel mit dem Begriff „Corpse deBallet“ spielt, dem (klassischen) Tänzerensemble, und dem englischen Wort für Leichnam „Corpse“. Die Kombination aus beidem trägt eine gewisse Provokation in sich. In seinem Stück lässt er aber nicht sie Toten tanzen, sondern die Lebenden, die über ihren Verlust hinweg kommen müssen. Dass dazu der Strauß-Walzer „An der schönen blauen Donau“ erklingt, wirkt unheimlich; denn er wird von Trommeln und elektronischen Klängen begleitet. – Ein Effekt, der an Krieg und Tod erinnert. Löste diese Stück bei vielen Besuchern auch persönliche Betroffenheit aus, so war es doch ein sehr nachhaltiges emotionales Erlebnis. (gs) Mit diesem Stück verabschiedet sich die Compagnie der Semperoper in die Sommerpause. Wer die Aufführungen im Juni/Juli verpasst hat, sollte sich unbedingt den 9. (Dresden-Tag), 13. oder 17. September vormerken, wenn „100 Grad Celsius“ wieder gespielt wird.  


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