"Theater braucht den Mut zum Risiko"
Herr Märki, es war Ihr Entschluss, Ihren 2025 auslaufenden Vertrag nicht zu verlängern. Dadurch liegt jetzt Ihre letzte Spielzeitpause hinter Ihnen. Sind Sie froh, dass sie jetzt vorüber ist?
Ja, mit einer leichten Melancholie und auch einer gewissen Leichtigkeit. Zunächst waren da zwei, drei Wochen Abschalten angesagt. Dann habe ich in dieser Situation über Vieles, weil ja auch Vieles das letzte Mal ist, neu nachgedacht, was zur Gewohnheit geworden war.
Was macht ein Theatermann in der Hitze eines solchen Sommers?
Das macht ein jeder anders. Ich war eine Woche lang in Aix-en-Provence beim Opernfestival, einem der größten europäischen Musikfestspiele, habe Freunde und Kollegen besucht und war in der letzten Woche in der Schweiz.
Ihr fünftes und letztes Jahr beginnt. Wie hat sich das Theater in den vergangenen Jahren verändert?
Theater verändert sich ja immer. Das ist ein fortlaufender Prozess. Aber mit so vielen Veränderungen wie in dieser Zeit hat dann doch niemand gerechnet: Pandemie, Kriege, Inflation, Klimawandel und die ganzen anderen gesellschaftlichen Entwicklungen gehen auch an einem Theater nicht spurlos vorüber. Weil sich die Gesellschaft wandelt und Menschen ihre Haltungen überdenken, hat dies natürlich auch Einfluss auf das Theater. Diesen Prozess zu begleiten, zu hinterfragen, künstlerisch zu kommentieren, Unterstützung zu geben, ist ja unsere Aufgabe und zugleich unsere Chance. Eines ist aber deutlich geworden: Die Pandemie und mit ihr die Vorbehalte und die Angst vor Begegnung haben auch das Theater nachhaltig verändert.
Was ist Ihnen besonders gut gelungen?
In meinen Jobs als Theaterleiter galt mir stets als das Wichtigste, die Zukunftsfähigkeit des jeweiligen Hauses zu erhalten oder daran zu arbeiten. Das hat mit Inhalten und mit den Rahmenbedingungen zu tun. Ich glaube, uns ist gelungen, das Theater als künstlerischen und sozialen Ort mit der Gegenwart zusammenzubringen, und uns ist gelungen, was fast überall, wo ich begonnen habe, meine Aufgabe war: das Theater aus einem Minus zum Schluss in ein Plus zu überführen. Mit das Wichtigste war, die Mitarbeiter in die Tarifsicherheit zu bekommen und die Unterfinanzierung abzumildern. Das Theater steht finanziell jetzt sehr gut da und auch die Zuschauerzahlen zeigen nach der Pandemie einen positiven Aufwärtstrend.
Braucht die Zukunftsfähigkeit nicht auch eine maßgebliche künstlerische Weiterentwicklung?
Ich glaube schon, dass eine ästhetische Erneuerung gelungen ist. Das spiegelt uns auch das Publikum im Zuspruch wie in der Irritation über manche vielleicht ungewohntere Bühnensprache. Im täglichen Tun und Ringen um den bestmöglichen Weg geht es darum, mit eigenen Mitteln und einem klaren Kompass der künstlerischen Arbeit zu größtmöglichen Freiräumen zu verhelfen. Das fordert den Mut zum Risiko heraus. Dazu muss man die Menschen natürlich mitnehmen, die Belegschaft wie das Publikum. Das ist nicht leichter geworden angesichts der vielen Veränderungen, die auf die Gesellschaft eingeprasselt sind. Und trotzdem: diese Gratwanderung zu gehen und nicht der anderen Verlockung des "machen wir mal das, was schon immer funktioniert hat" zu folgen, ist immer eine Herausforderung. Gerade als Staatstheater haben wir die Aufgabe, die Erwartung an ein Stadttheater zu erfüllen und überregionale Sichtbarkeit herzustellen.
Für viele Cottbuser und Opernfreunde von weiter her verbindet sich der Name Märki mit effektvollen Inszenierungen von "Carmen" und "Tristan und Isolde", mit denen Sie sich gewiss Träume verwirklicht haben. Gibt es für Sie auch unerfüllte Träume?
Ich habe "Carmen" auf Grund der hier schon mehrmals angesprochenen kunstwidrigen Umstände der Pandemie dreimal inszeniert. Eine Fassung davon ist corona-bedingt nicht zur Aufführung gekommen. Es freut mich, dass der lange Weg schließlich zum Erfolg und zu so großer Resonanz in der Öffentlichkeit geführt hat. Ja, "Tristan und Isolde" in der vortrefflichen Besetzung der Titelrollen mit Catherine Foster, Bryan Register und unserem Ensemble ist so ein erfüllter Traum. Einen Wunsch erfülle ich mir in dieser Spielzeit mit der Inszenierung der musikalischen Komödie "Kleider machen Leute" von Alexander von Zemlinsky nach der Novelle von Gottfried Keller. Wir spielen eine neue, noch nie aufgeführte Fassung, die Zemlinsky 1913 für das Nationaltheater Mannheim erarbeitet hatte. Sie zeigt einen Menschen als Projektionsfläche für gesellschaftliche Dynamiken und erzählt zudem eine bezaubernd poetische Liebesgeschichte.
Es bleibt danach nichts offen für Sie?
Offene Wünsche? Nein, es war eine aufregende Zeit an und mit diesem wunderbaren Haus. Als Intendant habe ich mein Augenmerk immer mehr auf die "Inszenierung" eines Hauses gelegt als auf eigene Regiearbeiten. Auf das Ermöglichen und Vermitteln. Vertrauen muss man sich natürlich erarbeiten. Da gab und gibt es immer genug zu tun.
Skizzieren Sie uns doch bitte mit wenigen Sätzen Ihre Vorstellung von modernem, zeitgenössischen Theater!
Theater muss immer modern sein, mit der Zeit gehen, auf die Zeit reagieren und steht deshalb immer vor neuen Herausforderungen. Das Wichtigste am Theater ist, nicht zu vergessen, dass Theater etwas Gemeinschaftliches ist. Im Entstehen und im Erleben. Diese Gemeinschaft in aller Unterschiedlichkeit ist meines Erachtens ebenso für ein friedliches Zusammenleben elementar wie für gutes Theater. Ich sehe wie viele andere die Gefahr, diese Gemeinschaft zu verlieren. Dagegen gilt es, mit künstlerischen Mitteln anzukämpfen. Theater kann mit dem, was es anbietet, diese Gemeinschaft herstellen. Dabei verfolgt es ein ganz einfaches Prinzip: Jemand steht auf der Bühne und spielt, andere schauen zu und wollen verstehen. Wenn das, was auf der Bühne geschieht, sprichwörtlich auf offene Augen und Ohren trifft, entsteht etwas Neues. Das ist der Gewinn beim Theater.
Fakt ist aber, dass eine ganze Reihe von Inszenierungen polarisieren, den Unmut des Publikums hervorrufen oder gar gänzlich auf Ablehnung stoßen. Ich erinnere an "Die Räuber", "Anna Karenina" und auch an "Die Zauberflöte". Wie gehen Sie damit um?
Zum Verstehenwollen gehört die Irritation dazu. Auf diese Weise entstehen Inszenierungen, die neue Sichten wagen. Auch wenn die von Ihnen genannten Stücke bei der Mehrheit polarisiert haben, ist der Anteil der Arbeiten, die polarisieren, in der Minderheit, doch auch diese Stücke haben große Fans gefunden, die damit eben auch in der Minderheit sind. Es ist schade, wenn eine Handvoll Stücke, die das Publikum spalteten, dazu verleiten zu generalisieren. Es kann nicht alles für alle gelingen. Das wäre dann weder künstlerisch noch im gesellschaftlichen Sinne gelungen.
Und "Die Räuber" als ein abschreckendes Beispiel?
Wenn Künstler sich nicht mehr ausprobieren und etwas machen dürfen, was mehrheitlich als nicht gelungen wahrgenommen wird …
Aber. . .?
Kein Aber. Eine vornehme Aufgabe als Intendant ist für mich die Achtung der künstlerischen Autonomie und die der Spartenleiter. Ich muss Interpretationen schon zulassen, auch wenn sie mir nicht behagen. Theater hat aber offen zu sein für alles, was nicht herabwürdigt. Übrigens: Als Schiller 1782 mit den "Räubern" herauskam, hat er sicherlich größere Proteste, einen größeren Skandal ausgelöst als wir. Er war im Umgang mit seinen eigenen Stücken der erste Protagonist des heute so genannten Regietheaters. Theater müssen so etwas aushalten. Die Reaktion auf unsere "Karenina" konnte ich dagegen nicht nachvollziehen. Das war für meine Begriffe eine sehr gelungene Inszenierung. Und so viel Protest über Nacktheit auf der Bühne. Im 21. Jahrhundert, mein Gott. . . Das überrascht mich hier im sonst so offenen Cottbus. Berlin hat vierzigmal so viele Einwohner, aber 150 Theater mehr als wir, und jedes hat sein Publikum. Wir müssen uns auf ein Publikum einstellen und dafür ein umfassendes Theaterangebot machen. Im Übrigen haben gerade das Schauspiel und sein Ensemble eine enorme Entwicklung genommen, neues, vielschichtiges Publikum gefunden und einige Produktionen zu wahren Kultveranstaltungen gemacht.
Sie lieben Cottbus?!
Ich liebe meine Frau (lacht). Aber ich habe große Ehrfurcht vor dieser Stadt, dieser Region und ihren Menschen und glaube fest an ihre Zukunft, was natürlich mit dem Entstehen neuer Arbeitsplätze und Perspektiven zu tun hat. Hier herrscht eine Aufbruchstimmung, die man täglich spürt und daran liegt, dass die Stadt den mit dem Kohleausstieg verbundenen Strukturwandel anpackt. Wir haben einen Oberbürgermeister, der was will, viel kommuniziert und bewegt. Wenn einer meint, in Teilen des Ostens gingen die Lichter aus, gilt das für Cottbus mit Sicherheit nicht. Und da hat die Wechselwirkung von Theater und Stadtgesellschaft auch einen Einfluss, egal wie oft behauptet wird, Theater hätte seine gesellschaftliche Stellung verloren. Das gilt für Städte wie Cottbus eben nicht. Jedes Zuschauergespräch macht wieder neu deutlich, wie wichtig ihnen "ihr" Theater ist. Dass ich daran mitarbeiten durfte, durchaus in der Tradition von Christoph Schroth, den ich verehrt habe, ist auch ein erfüllter Traum von mir.
Haben Sie eigentlich schon Pläne für Ihren (Un-)Ruhestand?
Ich habe einige schöne Pläne und Verabredungen, die aber noch nicht spruchreif sind, und werde zunächst mal viel im Ausland sein.
Für alle Pläne wünschen wir Ihnen schon heute, dass sie sich erfüllen. Davor aber erst einmal eine erfolgreiche neue Spielzeit.

Theaterstück über Anne Frank
