Rudolf Bahros Alternative zum real existierenden Sozialismus
Unter der Überschrift „Weiterer Spion des BND verhaftet“ lasen die Cottbuser vor 40 Jahren in der Lausitzer Rundschau: „Berlin (ADN). Am 23. August 1977 wurde von den Sicherheitsorganen der DDR Rudolf Bahro wegen Verdachts nachrichtendienstlicher Tätigkeit festgenommen. Ein Ermittlungsverfahren wurde eingeleitet.“ Bei dieser schmallippigen Erklärung sollte es in den DDR-Medien lange Zeit bleiben, obwohl man sich im Westen mit dem Thema Bahro und seiner „Alternative“ geradezu überschlug. Rudolf Bahro hatte an der Berliner Humboldt-Universität Philosophie studiert, war früh Mitglied der SED geworden und wirkte in den Sechzigern in den Redaktionen von Studentenzeitungen, zuletzt als stellvertretender Chefredakteur der vom Zentralrat der FDJ herausgegebenen Zeitschrift Forum. Hier wurde er 1967 wegen des Abdrucks eines verbotenen Stücks von Volker Braun gefeuert. Im folgenden Jahrzehnt arbeitete der Philosoph, sozusagen strafversetzt, in verschiedenen Betrieben im Bereich der Arbeitsorganisation und lernte auf diese Weise die Wirklichkeit in den DDR-Betrieben kennen. Die Erkenntnisse dieses Jahrzehnts fasste er in seinem Buch „Die Alternative“ zusammen. Bahros Hauptgedanke ist die Feststellung, dass die Marxsche Forderung nach einer „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“, also der Sozialismus, in den RGW-Ländern nicht verwirklicht ist. „Die Entfremdung, die Subalternität der arbeitenden Massen dauert auf neuer Stufe an.“ Ob sich die arbeitenden Menschen aus Cottbus in Bahros Analysen wiedererkannt hätten, ist fraglich. Die Bezirksstadt war ein industrieller Schwerpunkt. Das Textilkombinat, das Reichsbahnausbesserungswerk, der Starkstromanlagenbau und die Baukombinate, besonders jedoch die Energiewirtschaft in der Region, sorgten auf den ersten Blick für Wachstum. Und in den Siebzigern ging es dann auch für viele Cottbuser spürbar voran. Zuerst in Sandow und später in Sachsendorf entstanden tausende Wohnungen. Die Betriebe kümmerten sich um Kinderbetreuung, Volkskunst, Kleingartenvergabe und Kulturhäuser. Im Mittelpunkt stand die Erfüllung der auf dem VIII. Parteitag der SED beschlossenen Hauptaufgabe. Sie bestand „... in der weiteren Erhöhung des materiellen und kulturellen Lebensniveaus des Volkes auf der Grundlage eines hohen Entwicklungstempos der sozialistischen Produktion, der Erhöhung der Effektivität, des wissenschaftlich-technischen Fortschritts und des Wachstums der Arbeitsproduktivität.“ Die Wirklichkeit in den Cottbuser Betrieben, bei Poco, VEM und der Tufa war freilich rauer und problembehafteter, als die Propaganda glauben machen wollte. Das starre Planungssystem, die organisierte Verantwortungslosigkeit, eine falsche Preispolitik und das ständige Hineinregieren der Partei in die betrieblichen Belange führten zum immer größeren Rückstand gegenüber dem Westen. Die vollständige soziale Sicherheit, wenn auch auf niederem Niveau, erwies sich letztlich als Hemmnis. Das sture Festhalten an der Subventionierung der Verbraucherpreise für Energie, Mieten und Grundnahrungsmittel hatte groteske Auswirkungen. Bahro wollte das alles überwinden mit der Abschaffung der Subalternität, also der Hierarchie von Befehlsgebern und Ausführenden, und die Aufhebung der Entfremdung der Arbeit: Alle Menschen sollten den Zugang zu allen Tätigkeitsbereichen haben. Summa summarum ging es ihm darum, dass „... die Architekten bereit sind, ihren Anteil am ‚Karreschieben‘ zu leisten“ und die Bauarbeiter mit planen und entwerfen. Waren die Teilung von geistiger und körperlicher Arbeit, das Vorhandensein von Hierarchiestufen und die Existenz von einfachen Arbeitsvorgängen das entscheidende Problem der DDR-Wirtschaft? Sicherlich nicht! Radikale Gleichheitsforderungen sind nicht mit den Erfordernissen des modernen Produktionsprozess vereinbar. Vielmehr waren die Eigenverantwortlichkeit der Betriebe, ein größeres Maß an Marktwirtschaft und ein demokratischer Wettbewerb um die besten Ideen die Themen. Aber Bahros „Alternative“ hätte eine breite Diskussion anstoßen können! Stattdessen wurde die Veröffentlichung in der DDR verhindert. Das Buch erschien im September 1977, vor 40 Jahren, in Westdeutschland. Dann kam leider, was in der DDR kommen musste. Der Autor wurde verhaftet, als westdeutscher Agent angeklagt und „... wegen des Landesverratsdelikts Sammlung von Nachrichten sowie wegen Geheimnisverrats“ zu acht Jahren Gefängnis verurteilt. Mit seiner Frau, seinen Kindern und seiner aktuellen Lebenspartnerin schob man ihn 1979 in die BRD ab. Eine weitere Chance zur Herbeiführung einer breiten, demokratischen Diskussion über das ökonomische System des Sozialismus blieb ungenutzt. Bahro: „Das Verhalten der DDR deckt sich mit meiner Analyse des Systems.“ Die Wochenzeitung „Die Zeit“ nannte Bahro „... einen politischen Propheten, bei dem sich hellste Klarsicht und groteske Blindheit paaren“. Diesem Ruf ist der Wissenschaftler auch in seinem Wirken bei den Grünen bis zum frühen Tod 1997 treu geblieben.