Glasnost in der Niederlausitz - Fehlanzeige?
Wer zwischen den Zeilen lesen konnte, stellte spätestens Anfang 1987 fest, dass die „unverbrüchliche Freundschaft“ zur Sowjetunion erste Risse bekommen hatte. Michael Gorbatschow, seit zwei Jahren Generalsekretär, stellte auf dem Januarplenum sein Konzept für die Reform im Lande vor. Perestroika (Umbau) und Glasnost (Transparenz) hießen die Zauberworte. Nach Jahrzehnten lähmender Stagnation wollte der Parteichef die Eigenständigkeit der Betriebe stärken und den Markt nutzen. Geplant waren freie Wahlen mit mehreren Kandidaten, Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit unter Beibehaltung der privilegierten Stellung der KPdSU. Den Wohlstand der Sowjetmenschen wollte der Reformer durch die Eindämmung des Wettrüstens steigern. Das waren für die alten Männer im SED-Politbüro unerträgliche Tabu-Brüche. Die braven Zeitungsleser in der DDR, von früher gewohnt, auch die langweiligste Rede jedes Sowjetführers zuerst abends in der Aktuellen Kamera vorgelesen zu bekommen und dann am nächsten Tag in der Zeitung abgedruckt zu finden, mussten sich von nun an mit gekürzten und geschönten Fassungen zufriedengeben. Nicht mehr alles, was beim großen Bruder geschah, erfuhren die Menschen. Das war nach fast vierzig Jahren Gefolgschaft nach dem Motto: „Von der Sowjetunion lernen, heißt siegen lernen!“ ein schwieriger Spagat. Die Antwort der SED-Führung erfolgte auf Umwegen. Offene Kritik gab es 1987 noch nicht. Politbüromitglied Kurt Hager jedoch gab dem Magazin „Stern“ ein Interview und beantwortete die Frage nach der Notwendigkeit von Reformen in der DDR so: „Würden Sie, nebenbei gesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung neu tapeziert, sich verpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tapezieren?“ Hier gab es also nichts zu reformieren. Es bürgerte sich der Slogan vom Sozialismus in den Farben der DDR ein. Die Entwicklung in der Sowjetunion wurde von den DDR-Bürgern jedoch mit großer Aufmerksamkeit und von Anfang an mit Hoffnungen verfolgt. Ein Nebeneffekt war auch in Cottbus zu spüren. Sowjetische Zeitschriften, früher eher Ladenhüter (Neue Zeit, Sputnik, Sowjetliteratur), wurden zur Mangelware. Filme wie „Geh und sieh!“, „Reue“ oder „Die Kommissarin“ gaben dem abwertenden Wort vom „Russenfilm“ einen neuen Inhalt. Von Perestroika, also Umbau, wollte die Führung der DDR nichts wissen, obwohl die Defizite allgemein bekannt waren. Und wie sah es mit Glasnost, also Offenheit, Transparenz aus? Ein Blick in die damaligen Zeitungen ist erhellend. Im Sommer 1987, vor 30 Jahren, lasen die Cottbuser in der Märkischen Union, in den Brandenburgischen Neuesten Nachrichten und in der Lausitzer Rundschau von der Ernteschlacht, der Streckenelektrifizierung und dem 75. Geburtstag Erich Honeckers. Die LR-Ausgaben vom 25. und 26. August enthielten 28 Fotos des Jubilars. Attacken auf die Politik der westdeutschen Regierung waren in diesem Sommer fast ganz verschwunden. Man bereitete sich auf den Besuch des Generalsekretärs in Bonn vor. Hier sollte jede Störung vermieden werden. Den blutigen Golfkonflikt, den Irak-Iran-Krieg, behandelten die DDR-Medien sehr knapp. Nur wenige Eingeweihte wussten, dass LKWs aus Ludwigsfelde an beide Seiten geliefert und als Truppentransporter genutzt wurden. Auch in Cottbus selbst gab es Ereignisse, die weitgehend verschwiegen wurden. Im August 1987 behandelte der Rat der Stadt die akute Gefahr für das Trinkwasser durch Schadstoffe, die von den Chemischen Werken in der Bautzener Straße ausging. Zwar wurden einige Maßnahmen eingeleitet. Die Öffentlichkeit erfuhr davon jedoch nichts. Über die Nuklearwaffen der 164. Raketenbrigade der sowjetischen Streitkräfte im Wald von Drachhausen gab es tausend Mutmaßungen und Ängste, aber keine Diskussion in den Medien. Umweltdaten waren geheim. Der Schreckensruf: „Es riecht nach Schwarze Pumpe!“ kam einmal in der Woche. Aber offiziell darüber gesprochen wurde nicht. Die erhöhten Werte, die das Staatliche Amt für Atomsicherheit und Strahlenschutz auch ein Jahr nach der Katastrophe von Tschernobyl für den Bezirk Cottbus registrierte, blieben unter dem Teppich. Das heißt nicht, dass es keine Orte der Diskussion gab. Wer heute erfahren will, was die Menschen in Cottbus dachten, welche Wünsche und Hoffnungen sie hatten und mit welchen Problemen sie sich herumschlugen, wird es aus den damaligen Zeitungen oder aus den Archiven der „Aktuellen Kamera“ nicht erfahren. In der Gegenwartsdramatik und bei der Inszenierung klassischer Texte im Cottbuser Theater fanden sich die Menschen wieder. „Franziska Linkerhand“ ermutigte und stellte Fragen zugleich. Die legendären Premierenfeiern im Club der Intelligenz standen auf der Agenda der Genossen vom Nordrand sicherlich ganz oben. Zwei Jahre später durchbrachen die DDR-Bürger den Bann der Stagnation und der Unmündigkeit. Fast mit Wehmut erinnern wir uns heute an die Basisdemokratie des Runden Tisches und die Ausgaben der LR sowie an die Sendung AK II, als die Fesseln der Zensur gesprengt waren. Und wie sieht es mit der Offenheit in der Gegenwart aus? Kommen die Stimmen, die gegen „alternativlose Politik“ Stellung nehmen, ausreichend zu Wort? Sind alle Zahlen im Zusammenhang mit der Flüchtlingskrise auf dem Tisch? Treffen die Wahlkampfthemen der Parteien wirklich die Probleme der Menschen? Sind die heutigen Kritiker tatsächlich alle Populisten? Ist man mit der Verurteilung von Menschen als „Verschwörungstheoretiker“, „Putinversteher“ oder „Rechte“ nicht oft vorschnell? Bei der ersten Demonstration am 30. Oktober 1989 trugen die Menschen handgemachte – nicht vorgefertigte – Losungen. Waren „Wir sind das Volk!“, „Sozialismus, aber besser!“ und „Wir bleiben hier!“ oder gar „Die Freiheit ist immer die Freiheit der Andersdenkenden“ populistisch? Radikalismus ist die Unfähigkeit, anders zu denken!