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Antifaschistischer Schutzwall oder Todesstreifen

Kaum eine andere Aktion ist unter so strenger Geheimhaltung vorbereitet worden, wie die Grenzschließung am 13. August 1961. In der Woche vor dem einschneidenden Ereignis sind die DDR-Zeitungen voll mit Berichten über den zweiten sowjetischen Kosmonauten. Die Lausitzer Rundschau titelte am 7. August: „Genosse Titow steuert Wostok II seit gestern um die Erde“. Aber schon an zweiter Stelle stehen Berichte über Menschenhandel, Republikflucht und „Kopfjäger“.
Cottbus 1961, Blick vom Spremberger Turm in die Straße der Jugend. Foto: Erich Schutt

Cottbus 1961, Blick vom Spremberger Turm in die Straße der Jugend. Foto: Erich Schutt

Tatsächlich hatte die Fluchtwelle aus der DDR im Sommer 1961 auch in Cottbus einen neuen Höhepunkt erreicht. Man wusste eigentlich nie genau, ob der Arzt, der Lehrer oder Ingenieur am nächsten Tag noch an seinem Arbeitsplatz war. Das Wirtschaftswunderland mit seinem bunten Schaufenster Westberlin entfaltete große Anziehungskraft. Durch pausenlose Propaganda wurde diese Sogwirkung von westlicher Seite verstärkt. Die DDR wehrte sich mit einer Medienkampagne, die sich gegen „kriminellen Menschenhandel“ richtete. In der Niederlausitz ging es dabei besonders um den Fall Peter B. aus Dissen. Die Großmutter des Dreijährigen hatte sich mit dem Kind nach Westberlin abgesetzt. Die Cottbuser Tageszeitung berichtete fast täglich von Protestresolutionen aus Betrieben und kritisierte scharf alle Versuche, die Entführung durch die „… abgefeimte Kindesräuberin Anna K.“ als Familienstreit darzustellen. Dazu kamen drastische Schilderungen der „trostlosen Zustände“ in den Flüchtlingslagern für ehemalige DDR-Bürger. „Wer in die Westzonen fährt, erleichtert Kopfjägern das Handwerk.“ Aber damit ließ sich die Fluchtwelle augenscheinlich nicht stoppen. Hauptgrund dafür waren sicherlich die wirtschaftlichen Probleme. Die DDR hatte 97 Prozent der Gesamtreparationen an die Siegermächte zu erbringen, insgesamt 99,1 Milliarden DM, gegenüber 2,1 Milliarden aus Westdeutschland. Zusätzlich erschwerte die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft die Situation. Vergessen darf man auch nicht die überstürzte Einführung der Zehnklassigen Oberschule, die mit dem Wegfall fast zweier kompletter Jahrgänge die Arbeitskräftesituation verschärfte. Summa summarum: Es stand nicht gut mit der Wirtschaft der DDR. Und auch die Cottbuser spürten Anfang August, dass etwas in der Luft lag. Der 13. August war ein Sonntag. Die ersten Nachrichten am Abend waren noch recht unklar. Auch die Meldungen in der LR am nächsten Tag ließen noch nicht vollständig erkennen, dass sich die Situation in Deutschland grundlegend geändert hatte. Veröffentlicht wurden die „Erklärung der Regierungen der Warschauer Vertragsstaaten“ und der „Beschluss des Ministerrats der DDR“. Erst die „Bekanntmachung des Ministeriums des Innern“ wurde konkreter: „Bürger der DDR einschließlich der Bürger der Hauptstadt der DDR benötigen für den Besuch von Westberlin eine Genehmigung des zuständigen Volkspolizeikreisamtes...“ Die Grenze war zu und wurde in den folgenden 28 Jahren immer weiter perfektioniert. Vom ersten Tag an und auch 27 Jahre nach dem Fall der Mauer in Berlin und an der „Grünen Grenze“ stand und steht sie im Mittelpunkt der Auseinandersetzung. Bürgerrechtler, westliche Politiker und die internationale Öffentlichkeit kritisierten das monströse Bauwerk völlig zu recht. Etwas zu kurz kommt dabei nur die Tatsache, dass die westliche Seite nichts ausgelassen hat, um die DDR-Führung zu diesem Schritt zu bewegen. Und die Verteidiger der Mauer behaupten bis heute, dass es doch viele vergleichbare Grenzanlagen, einschließlich Schusswaffengebrauch, gibt. Dabei übersehen sie geflissentlich, dass die Grenzen in den USA, Israel oder den spanischen Enklaven gegen das Eindringen von außen gebaut sind. Die Bürger der DDR spürten schnell, dass diese Mauer, auch in ihrer technischen Konstruktion, dafür geschaffen war, die Menschen am Verlassen ihres Staates zu hindern. Der Erklärung Walter Ulbrichts, dass „… Stacheldraht zweifellos gut und notwendig ist als Schutz gegen diejenigen, die die DDR überfallen wollen“, wurde nicht geglaubt.
An dieser Erkenntnis konnte die folgende Kampagne in der Cottbuser Tageszeitung nichts ändern: „Unsere Kinder sind jetzt nicht nur sicher vor Menschenräubern, sie sind auch sicher vor Schundliteratur, vor verderblichen Frontstadteinflüssen“, „Jauchegrube fest zu gedeckt“, „Kalte Dusche für Kriegstreiber“. Der Mauerbau war das entscheidende Ereignis in der Geschichte der DDR. Ob bei historischen Analysen, Festreden oder beim Rückblick im vertraulichen Familienkreis: Das Grenzregime bleibt leider die eindringlichste Erinnerung an den untergegangenen Staat. Während der gesamten 28 Jahre der Existenz der Mauer stand sie zwischen den Bürgern und der Führung als Symbol des gegenseitigen Misstrauens. Eine Identifizierung der Mehrheit der Menschen mit diesem Staat entwickelte sich nicht. Die DDR konnte noch so viele Fackelzüge organisieren, Olympiasiege feiern oder Kosmonauten ins Weltall schicken: Der Stolz, Bürger dieses eingemauerten Landes zu sein, war auf einen sehr überschaubaren Kreis reduziert. Ein wirkliches Zusammengehörigkeitsgefühl der Ostdeutschen entstand.


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