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1989 – Wahlfälschung, Tränen, Demonstrationen und die Wende

- Vor 30 Jahren -
Die Werktätigen blicken finster. Bezirkschef Werner Walde beim

Die Werktätigen blicken finster. Bezirkschef Werner Walde beim "Bürgerdialog". Foto: Erich Schutt

Mit „Bergleute nutzen verstärkt Schlüsseltech­nologien“ war der Beitrag über den Besuch Werner Waldes bei den Bergarbeitern am Neujahrstag 1989 im Tagebau Welzow-Süd überschrieben. Gemeldet wurde ein „Kontinuierlicher Kohle­strom vom Tagebau zum Kraftwerk“. Und als Gegensatz: „Weiterer Sozi­alabbau in der BRD“. Beim zweiten Wettkampf der Vierschanzentournee in Garmisch-Partenkirchen belegte Jens Weißflog den 2. Platz. Die Jour­nalisten schwärmten aus und suchten Geschichten, die eine fleißige und zufriedene DDR-Bevölkerung bzw. die kapitalistische Ausbeutung im Wes­ten zeigten. Solche journalistischen Praktiken sind uns heute ja auch nicht gänzlich unbekannt. Das DDR-System war allerdings zum Jahreswechsel 88/89 schon an­geschlagen. In der Abteilung Inneres beim Rat der Stadt wuchs der Stapel der Ausreiseanträge. Das Sputnikver­bot stieß auch innerhalb der SED auf Unverständnis. Schon seit 1987 gab es die Umweltgruppe Cottbus unter der Leitung von Peter Model. Die drei Sektionen Frieden, Gerechtigkeit und Ökologie diskutierten noch unter dem Dach der Kirche. Diese Gruppe wurde von der Staatssicherheit als die „gefähr­lichste“ Kraft im Bezirk Cottbus eingeschätzt. Aber auch Perestroika-Stücke im Theater, Ausstellungen in der „Marie“ und Texte der Gruppe Sandow wühlten die Menschen auf. Demo in Cottbus Im Mai wies auch die Cottbuser Um­weltgruppe nach, dass die Ergebnisse der Kommunalwahlen hier gefälscht waren. Das sogenannte „Zettelfalten“ war anachronistisch geworden ange­sichts der Tatsache, dass in Polen und in der Sowjetunion inzwischen Wah­len mit alternativen Kandidaten statt­fanden. Sollte das der „Sozialismus in den Farben der DDR“ sein? Erschro­cken schauten die Menschen auch auf China, wo rebellierende Studenten in Peking den Aufstand probten? Schon damals mischten westliche Geheim­dienste mit, wenn „regime change“ angesagt war. Aber das Beenden eines Protestes mit Panzern konnte man den DDR-Bürgern nur schwer als Verteidigung des Friedens nahe­bringen. So wuchs dann im Sommer auch in Cottbus die Ausreisewelle an und begann, sich auf das Leben in der Bezirksstadt auszuwirken. Im Krankenhaus entstanden Personal­engpässe. Auch Cottbuser flohen in die westdeutschen diplomatischen Vertretungen in Berlin, Prag und Warschau. Die parteiamtliche Mittei­lung, dass man denen keine „Träne nachweinen“ wolle, rief starken Wi­derspruch hervor. Und im Frühherbst verließen anderswo mutige Menschen die Kirchenräume und trugen den Protest auf die Straße. Aber trotz der rasch anwachsenden Zahl der De­monstranten in Leipzig, Dresden, Plauen und Neubrandenburg blieb es in Cottbus zunächst still. Ja, es gab sogar das Gerücht, dass Cottbu­sern an Leipziger Tankstellen das Benzin verweigert worden wäre, weil es hier noch keine ordentliche Demo gegeben hätte. Am 30. Ok­tober war es dann soweit. Anstatt artig zu „Dialogveranstaltungen“ zu gehen und kontrolliert zu disku­tieren, trafen sich weit über 20 000 Niederlausitzer vor dem Theater. Mit den Worten von Cornelia Jahr „Viele Cottbuser haben auf diesen Tag gewartet!“ begann die Wende in der Stadt. Die Verspätung holten die Bür­gerinnen und Bürger dann rasch auf. Innerhalb eines Monats trat fast alles zurück, was zurücktreten konnte. Die Stunde von Waldemar Kleinschmidt Die Überreste des alten Machtappa­rates präsentierten den Cottbusern dann einen neuen OB-Kandidaten. Aber nun war auch die Stadtverord­netenversammlung mutig geworden. In einer volksversammlungsartigen Sitzung am 13. Dezember bestimmten Abgeordnete, Ratsmitglieder und Gäs­te Waldemar Kleinschmidt als neuen amtierenden Oberbürgermeister. Nach der anfänglichen Verspätung hatte Cottbus nun als erste Stadt des Os­tens ein nicht von der SED bestimm­tes Oberhaupt. Das erfuhren wenige Tage später die Fernsehzuschauer in Österreich, der Schweiz und in beiden deutschen Staaten, als Karl Moik in der Cottbuser Stadthalle den „Musi­kantenstadl“ mit der Vorstellung des neuen Oberbürgermeisters begann. Noch im Dezember trat der Runde Tisch zusammen. Gemeinsam mit dem Generalsuperintendenten Rein­hart Richter moderierte Waldemar Kleinschmidt dieses demokratische Gremium. Alte und neue Parteien, Bürgerbewegun­gen und neue Gesichter wie Werner Labsch und Wolfgang Bialas stellten in Cottbus die Weichen für den Start in die kommunale Selbstverwaltung und die Vorbereitung gleicher und geheimer Wahlen. Über die Ereignisse des wohl spannendsten Cottbuser Jahres soll an dieser Stelle in den nächsten Monaten noch häufiger die Rede sein.


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