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Oktoberrevolution im Spiegel zeitgenössischer Tageszeitungen

- Vor 100 Jahren -

In diesen Tagen wird an die Revolution in Russland erinnert. Die Ereignisse vom 7. November 1917, nach dem alten orthodoxen Kalender als Okto­berrevolution bezeichnet, spielen in der Öffentlichkeit zwar nicht mehr die Rolle wie vor 30 oder 40 Jahren in der DDR. Dort waren die wirklichen Geschehnisse in Petrograd, die Mythen und die Lesebuchgeschichten zu einem sakrosankten Ereignis verflochten, das außerhalb jeder Kritik stand. Heute streiten westlichen Historiker darüber, ob es überhaupt eine Revolution war oder nicht vielmehr eine Verschwörung, ein Putsch oder ein Staatsstreich. Wie immer diese Debatte weitergeht, Fakt bleibt, dass Lenin und seine Bolschewi­ki im November 1917 aus der Sicht der hungernden Massen als einzige klare Antworten auf die beiden Hauptfragen der Zeit hatten: Brot und Frieden! Wer in den beiden Cottbuser Tages­zeitungen aus dem Jahr 1917 nachliest, wird sich keineswegs der Auffassung anschließen können, das die Oktober­revolution ein „völlig undramatisches Ereignis“, ein Staatsstreich, von dem die Einwohner St. Petersburgs gar nichts bemerkten, gewesen sei. Der Cottbuser Anzeiger und die Märkische Volksstimme berichten ab dem 2. No­vember 1917 täglich und auf der ersten Seite über die Unruhen in der russi­schen Hauptstadt. Nur zwei Tage nach dem Ausbruch der Revolution ist die Redaktion des Verlages Heine in der Bahnhofstraße informiert: „Bürgerkrieg in Russland. Straßenkämpfe in Petersburg“. Im Anzeiger erfahren die Cottbuser: „Eine Abteilung Marinesol­daten unter dem Befehl des revolutionären Ausschusses der Maximalisten besetzte die Geschäftsräume der amtlichen Petersburger Telegraphen-Agentur, die Telegraphenzentrale, die Staats­bank und das Marineministerium, wo der Rat der Republik tagte … In vielen Straßen werden Barrikaden erbaut … In den Arbeitervierteln herrscht heller Aufruhr.“ Aus der Märkischen Volks­stimme erfahren die Cottbuser erstma­lig den Namen Lenin. „Der Leiter der Bewegung, Lenin, verlangt sofortigen Waffenstillstand und Frieden“. Nicht ohne Sympathie titelt das SPD-Blatt: „Sieg der Friedensfreunde.“ Erstmalig taucht in der Zeitung der Begriff der Diktatur des Proletariats auf und die Maximalisten werden nun als Bol­schewiki bezeichnet. „Lenin und seine Gesinnungsgenossen stellten die These auf, dass die Niederlage Russlands im Kriege das kleinere Übel sein würde ...“ All das war den Cottbusern nahezu in Echtzeit, das heißt ohne Rundfunk mit weniger als 48 Stunden Verspätung, bekannt. Sie lasen von Bolschewiki, Men­schewiki und Sozial­revolutionären, von den Signalschüssen des Kreuzers Aurora, vom II. Sowjetkongress im Smolny und von den Dekreten über den Frie­den, über den Grund und Boden und über die Rechte der Völker Russlands. Die Märkische Volksstimme ermahnt die deutsche Politik, die russische Revolution nicht für ihre Kriegsziele zu missbrauchen und äußerte die Hoffnung: „Würden die Zentralmächte unter dem wachsenden Einfluss der Demokratie ein neues reel­les Friedensangebot machen, dann öff­neten sich Möglichkeiten für Friedens­verhandlungen und einen allgemein für alle Völker ehrenhaften Frieden.“ Ein Ereignis steht symbolisch für den Umsturz in Sankt Petersburg, das im Oktober 1917 Petrograd hieß: Der Sturm auf das Winterpalais, dem Sitz der provisorischen Regierung. Heute wird gern behauptet, den Sturm habe es in dieser dramatischen Form nie gegeben. Eisensteins Film „Oktober“ sei eine Propagandalüge. Die Leser des Cottbuser Anzeigers erhielten jedoch in der Ausgabe vom 11. November 1917 detaillierte Informationen über das dra­matische Geschehen: „Die erste Truppenabteilung versuchte sich durch die Millionajastraße dem Palast zu nähern, aber das Maschinengewehrfeuer der Verteidiger verhinderte das. Angesichts des Widerstandes der Palastwache feuerten zwei auf der Newa liegende Torpedoboote Kanonenschüsse ab, zu­gleich schossen auch die Panzerkraft­wagen auf das Gebäude.“ Summa summarum: Die russische Revolution bestimmte 1917 über ei­nen Monat die Berichterstattung der beiden Cottbuser Zeitungen. Beide Blätter berichten erstaunlich objektiv über das Land und die Revolution, die die Geschichte des 20. Jahrhunderts so deutlich geprägt hat. Und die Russen heute? Wie stehen sie zur Oktoberrevolution? Unter den Historikern wird über positive und negative Folgen gesprochen. Der Za­renmord, der „Große Terror“ Stalins, die Zwangskollektivierung und die lähmen­de Stagnation der Breschnew-Zeit sind nicht nur Themen der akademischen Diskussion, sondern spielen in fast jeder Familie bis heute eine schmerz­hafte Rolle. Der im Westen viel geschmähte Wladimir Putin hat mit folgender Feststellung zur Oktoberrevolution wohl recht: „Viele westliche Errungen­schaften des 20. Jahrhunderts waren eine Antwort auf die Herausforderung der Sowjetunion. Ich spreche von der Anhebung des Lebensstandards, der Bildung einer starken Mittelschicht, der Reform des Arbeitsmarktes und des sozialen Bereichs, der Förderung der Bildung, der Gewährleistung der Menschenrechte, einschließlich der Rechte von Minderheiten und Frauen, der Überwindung der Rassentrennung, die, wie Sie sich erinnern werden, vor wenigen Jahrzehnten in vielen Ländern, einschließlich der Vereinigten Staaten, eine beschämende Praxis war.“


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