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Einführung der Sommerzeit löste 1916 keine Euphorie aus

Die Zeit ist ein zweifaches Monster. Sie ist erstens das Ungeheuer, dass uns mit tätiger Hilfe des Stundenplanes, der Uhr, des Terminkalenders und des Tagesplanes von der Kindheit bis zum Pflegeheim durch das Leben hetzt. Und sie ist zweitens jene vom Verstand schwer erfassbare Daseinsweise der Welt.
Die blaue Uhr, jetzt in der Bahnhofstraße, hat Wenden und Umstellung überstanden, Foto: Stadtmuseum Cottbus

Die blaue Uhr, jetzt in der Bahnhofstraße, hat Wenden und Umstellung überstanden, Foto: Stadtmuseum Cottbus

Die Eigenschaften der Zeit sind beschreibbar; sie selbst kann aber nicht erklärt werden. Materiell existiert immer nur das Jetzt. Ein Teil der Zeit ist schon vergangen, der andere steht noch bevor. Oder, wie der Dichter Friedrich Rückert sagt: „Dein Vergangenes ist ein Traum und dein Künftiges ist ein Wind. Hasche den Augenblick, der ist zwischen den beiden, die nicht sind.“ Uns interessiert heute aber ein ganz praktischer Aspekt der Zeit: Der Sinn oder Unsinn der jährlichen Umstellung von der Winterzeit auf die Sommerzeit. Ausgangspunkt für diesbezügliche Überlegungen war immer das Bestreben, das Tageslicht besser zu nutzen und so Energie zu sparen. In Europa kam deshalb die Zeitumstellung im Frühjahr nach der Energiekrise 1973 verstärkt ins Gespräch. Ende der Siebziger führten die westeuropäischen Staaten die Sommerzeit ein, 1979 schloss sich die DDR an und 1980 folgte die Bundesrepublik. Maßgeblich für die Sommerzeit ist in der Gegenwart die „Richtlinie 2000/84/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 19. Januar 2001 zur Regelung der Sommerzeit“. Bei einem Rückblick stellen wir jedoch fest, dass die Zeitumstellung schon während des I. Weltkrieges praktiziert wurde. Am 30. April 1916 stellten das Deutsche Reich und Österreich-Ungarn die Uhren eine Stunde vor. Ziel war die Energieeinsparung bei den mörderischen Materialschlachten und bei der Rüstungsproduktion. Bald folgten die Kriegsgegner. Nach dem Krieg gingen die Länder, mit Ausnahme Großbritanniens, mehr oder weniger schnell zurück zur Normalzeit. Der Cottbuser Anzeiger nahm zum Jahreswechsel 1916/17 eine Auswertung der erstmaligen Zeitumstellung vor. Die Fragen der Redaktion lauteten: Hat sich die Sommerzeit bewährt? Soll die auf die bessere Ausnutzung des Tageslichtes gerichtete Maßnahme fortgeführt werden? Die preußische Regierung hatte Erhebungen bei den Schulbehörden, den Vertretungen von Industrie und Handel, Handwerk und Landwirtschaft sowie den Eisenbahndirektionen veranlasst. Untersucht wurden der Umfang der Einsparung von Leuchtmitteln, die mögliche Beeinflussung der Arbeitssicherheit in den Betrieben und die gesundheitlichen Folgen für Schulkinder. Die Ergebnisse fielen 1916 nahezu genauso widersprüchlich aus wie 100 Jahre später. „Eine grundsätzliche Ablehnung erfährt die Maßnahme in der Landwirtschaft. Die Bauernvereine haben sich dahin ausgesprochen, dass die Sommerzeit zu großen Schwierigkeiten in der Landwirtschaft geführt hat. Gerade in der Zeit, wo die Arbeiten sich am meisten zusammendrängen, wurden erhebliche Störungen empfunden, da die Landbevölkerung und besonders die Kinder zu wenig Schlaf bekämen.“ Für die Schulen war das Echo gemischt. In Cottbus gab es einen ganzjährig einheitlichen Schulbeginn. In den Dorfschulen der Umgebung begann die Schule im Sommer aber eine Stunde eher, weil die Kinder mitarbeiten mussten. Das waren dann während der Sommerzeit zwei Stunden früher. Ausnahme laut Cottbuser Anzeiger: „Im Handel und Gewerbe sind die Erfahrungen fast überall günstig gewesen.“ Summa summarum: „Man darf gespannt sein, zu welchen Ergebnissen die amtlichen Erhebungen gelangen werden.“ Nach Begeisterung klang das nicht. So ist das auch noch heute. In diversen Umfragen gibt es eine klare Mehrheit zur Abschaffung der Sommerzeit. In einer Studie der EU heißt es jedoch: „Mehr als 20 Jahre nach der Verabschiedung der ersten Richtlinie (zur Sommerzeit) haben ... Landwirtschaft, Fremdenverkehr und Verkehr die Sommerzeit in ihre Aktivitäten integriert ...“ Es wird konstatiert, dass „... alle möglichen Freizeitbeschäftigungen am Abend, da diese nun bei Tageslicht ausgeübt werden können“, befördert werden. Unklar bleibt, „... ob die Sommerzeit ... die Ozonbildung begünstigt oder verringert.“ Der Stromverbrauch für die Beleuchtung geht zurück. „Allerdings verringern sich diese Einsparungen aufgrund des erhöhten Heizungsbedarfs am Morgen nach der Zeitumstellung.“ Und wie ist es mit der Gesundheit? Hier sagt die Studie: „Bei dem gegenwärtigen Stand der Forschungen und dem heutigen Wissensstand geht man davon aus, dass die meisten Störungen von kurzer Dauer sind und keine Gefahr für die menschliche Gesundheit darstellen.“ Das sehen viele Experten zwar völlig anders. Aber laut Brüssel ist die Sommerzeit, wie so viel anderes auch, alternativlos. Bleibt uns nur, mit Wilhelm Busch auszurufen: „So ist nun mal die Zeit allhie‘, erst trägt sie dich, dann trägst du sie, und wann‘s vorüber, weißt du nie!“


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